Kriegsvermisste im Kosovo: Die Angehörigen hoffen noch immer

In Jasmina Jovanovićs Kirche haben die Kerzenregale zwei Ebenen: Lichter für die Lebenden oben, für die Toten unten. „Wenn ich eine Kerze für meinen Vater anzünden will, weiß ich nicht, wo“, erzählt Jasmina mit zittriger Stimme.
Die 45-jährige Kosovo-Serbin ist eine von zahlreichen Angehörigen, deren Verwandte seit dem Kosovokrieg (1998-99) verschollen sind. Etwa 1.600 Vermisste sind es offiziell noch – die meisten von ihnen Kosovo-Albaner.
Was mit diesen Menschen geschehen ist, dazu gibt es viele Vermutungen. Experten glauben, dass es noch immer versteckte Massengräber in Serbien geben könnte. Vier solche wurden dort seit 1999 entdeckt – darin rund 950 tote Kosovo-Albaner. Der Vater, Onkel und Cousin des Unternehmers Selami Hoti waren nicht dabei. Wie Jasmina wartet auch er noch immer darauf, dass seine Verwandten auftauchen. Zwei seiner Brüder hat man nach dem Krieg ausgegraben.
Das Massaker von Krusha e Madhe
Der KURIER erreicht Selami, 50, in Krusha e Madhe – eine kleine Gemeinde, bekannt für ein grausames Massaker. Am 25. März 1999 – einen Tag, nachdem in Serbien die ersten Bomben der NATO vom Himmel gefallen waren – töteten serbische Truppen hier mehr als 240 Menschen. Über 60 Personen gelten bis heute als vermisst.
Selami sah seinen Vater sechs Tage davor zum letzten Mal. Bis heute denke er jeden Tag an den letzten Moment mit ihm, sagt er: „Gegen 8 Uhr früh habe ich ihn umarmt, dann verließ ich das Dorf.“ Hätte er das nicht gemacht, könnte auch er heute tot oder verschollen sein.
Jasmina und ihre zwei Schwestern lagen noch im Bett, als ihr Vater Paun 1999 das Haus verließ. „Wir hörten durchs offene Fenster, wie er ging“, erinnert sie sich. Paun arbeitete in einer technischen Schule in Uroševac, auf Albanisch Ferizaj. Die Familie wollte umziehen, ins mehrheitlich serbisch besiedelte Štrpce. Der Vater machte sich davor auf den Weg in die Schule, um wichtige Dokumente zu holen. Er kehrte nie zurück.
Der Kosovo-Krieg war der bewaffnete Konflikt um die Kontrolle des Kosovo im Zuge der Jugoslawienkriege. Er dauerte von Februar 1998 bis Juni 1999. Im März 1999 griff die NATO ein.
Heute sorgen im Kosovo noch immer KFOR-Truppen der NATO für Stabilität. Die einstige serbische Provinz erklärte sich 2008 für unabhängig, Serbien erkennt das nicht an und wird dabei von China und Russland unterstützt. Auch fünf EU-Länder erkennen den Kosovo nicht an (Griechenland, Rumänien, die Slowakei, Spanien und Zypern).
Neue Verhandlungen in Brüssel haben die zwei Seiten unter Vermittlung der EU diesen Februar aufgenommen. Dabei geht es vor allem darum, die angespannte Lage in den mehrheitlich serbisch besiedelten Gemeinden im Norden zu entschärfen. Zuletzt sind die Gespräche ins Stocken geraten.
Könnten sie noch leben?
Seitdem sind fast 24 Jahre vergangen. Jasmina lebt noch immer in Štrpce, arbeitet ebenfalls in einer Schule. Als sie vor einigen Jahren heiratete, trug sie kein Hochzeitskleid: „Ich wollte ohne meinen Vater nicht groß feiern“, sagt sie. Glaubt sie, dass ihr er noch leben könnte? Sie schluckt. „Er ist 1947 geboren. Im Krieg sind so viele Menschen gestorben. Realistisch gesehen lebt er nicht mehr. Aber ich kann das nicht akzeptieren, wenn ich nicht ganz sicher bin“, sagt sie unter Tränen.
Auch Selami glaubt noch immer daran, dass seine verschwundenen Verwandten leben könnten. Hinweise darauf gibt es keine: „Wir haben die ganze Stadt und das Gebiet rundherum nach ihnen abgesucht. Aber es gibt keine Spur von ihnen.“
Ankündigung in Brüssel
Sowohl Jasmina als auch Selami werfen der Politik vor, zu wenig für die Vermissten zu tun. Vergangene Woche kündigten Serbiens Präsident Aleksandar Vučić und Kosovos Premier Albin Kurti in Brüssel an, nun endlich gemeinsam nach den Vermissten zu suchen und dafür relevante Geheimdienstdokumente austauschen zu wollen. Für Familien wie die von Jasmina und Selami ein Hoffnungsschimmer.
Der Südosteuropa-Experte Florian Bieber von der Universität Graz ist aber skeptisch, ob die Regierungen der Ankündigung nachkommen werden: „Diese Erklärung ist nur eine Erklärung. Es gibt weder einen konkreten Plan noch einen Zeithorizont“, sagt er.
Vielmehr dürfte es, so Bieber, damit zu tun haben, dass Vučićs und Kurtis aktuelle Verhandlungen in Brüssel (siehe Fakten oben) eingefroren sind. „Ich vermute, dass sie einfach irgendeinen Fortschritt vorweisen wollten“, sagt Bieber. Bei den Vermissten handle es sich auch deshalb um ein heikles Thema, weil beide Seiten sie seit jeher für gegenseitige Schuldzuweisungen benutzten.
Warum es so wichtig ist, die Vermissten zu finden? „Damit wir endlich zur Ruhe kommen können“, antwortet Jasmina. „Wir haben ein Recht darauf. Genug wird es erst sein, wenn jeder Einzelne gefunden ist“, sagt Selami.
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