Das Massaker von Krusha e Madhe
Der KURIER erreicht Selami, 50, in Krusha e Madhe – eine kleine Gemeinde, bekannt für ein grausames Massaker. Am 25. März 1999 – einen Tag, nachdem in Serbien die ersten Bomben der NATO vom Himmel gefallen waren – töteten serbische Truppen hier mehr als 240 Menschen. Über 60 Personen gelten bis heute als vermisst.
Selami sah seinen Vater sechs Tage davor zum letzten Mal. Bis heute denke er jeden Tag an den letzten Moment mit ihm, sagt er: „Gegen 8 Uhr früh habe ich ihn umarmt, dann verließ ich das Dorf.“ Hätte er das nicht gemacht, könnte auch er heute tot oder verschollen sein.
Jasmina und ihre zwei Schwestern lagen noch im Bett, als ihr Vater Paun 1999 das Haus verließ. „Wir hörten durchs offene Fenster, wie er ging“, erinnert sie sich. Paun arbeitete in einer technischen Schule in Uroševac, auf Albanisch Ferizaj. Die Familie wollte umziehen, ins mehrheitlich serbisch besiedelte Štrpce. Der Vater machte sich davor auf den Weg in die Schule, um wichtige Dokumente zu holen. Er kehrte nie zurück.
Könnten sie noch leben?
Seitdem sind fast 24 Jahre vergangen. Jasmina lebt noch immer in Štrpce, arbeitet ebenfalls in einer Schule. Als sie vor einigen Jahren heiratete, trug sie kein Hochzeitskleid: „Ich wollte ohne meinen Vater nicht groß feiern“, sagt sie. Glaubt sie, dass ihr er noch leben könnte? Sie schluckt. „Er ist 1947 geboren. Im Krieg sind so viele Menschen gestorben. Realistisch gesehen lebt er nicht mehr. Aber ich kann das nicht akzeptieren, wenn ich nicht ganz sicher bin“, sagt sie unter Tränen.
Auch Selami glaubt noch immer daran, dass seine verschwundenen Verwandten leben könnten. Hinweise darauf gibt es keine: „Wir haben die ganze Stadt und das Gebiet rundherum nach ihnen abgesucht. Aber es gibt keine Spur von ihnen.“
Ankündigung in Brüssel
Sowohl Jasmina als auch Selami werfen der Politik vor, zu wenig für die Vermissten zu tun. Vergangene Woche kündigten Serbiens Präsident Aleksandar Vučić und Kosovos Premier Albin Kurti in Brüssel an, nun endlich gemeinsam nach den Vermissten zu suchen und dafür relevante Geheimdienstdokumente austauschen zu wollen. Für Familien wie die von Jasmina und Selami ein Hoffnungsschimmer.
Der Südosteuropa-Experte Florian Bieber von der Universität Graz ist aber skeptisch, ob die Regierungen der Ankündigung nachkommen werden: „Diese Erklärung ist nur eine Erklärung. Es gibt weder einen konkreten Plan noch einen Zeithorizont“, sagt er.
Vielmehr dürfte es, so Bieber, damit zu tun haben, dass Vučićs und Kurtis aktuelle Verhandlungen in Brüssel (siehe Fakten oben) eingefroren sind. „Ich vermute, dass sie einfach irgendeinen Fortschritt vorweisen wollten“, sagt Bieber. Bei den Vermissten handle es sich auch deshalb um ein heikles Thema, weil beide Seiten sie seit jeher für gegenseitige Schuldzuweisungen benutzten.
Warum es so wichtig ist, die Vermissten zu finden? „Damit wir endlich zur Ruhe kommen können“, antwortet Jasmina. „Wir haben ein Recht darauf. Genug wird es erst sein, wenn jeder Einzelne gefunden ist“, sagt Selami.
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