Kriminalität außer Kontrolle? Warum Trump in Washington den Notstand ausrief

US-Präsident Donald Trump hat am Montag den Notstand über Washington DC verhängt und zur Bekämpfung der angeblich aus dem Ruder gelaufenen Kriminalität in der amerikanischen Hauptstadt die Nationalgarde mobilisiert und die lokale Polizei seinem Justizministerium unterstellt. Der außergewöhnliche Schritt ruft extreme Reaktionen hervor in einer Metropole, die Trump bei drei Präsidentschaftswahlen rechts liegen gelassen hat. Die wichtigsten Aspekte am Tag danach:
Was sind Trumps Motive?
Oberflächlich betrachtet ist der Schritt ein weiterer Versuch des US-Präsidenten, von seiner tiefen Verwicklung in den Sexualstraftäter-Skandal um Jeffrey Epstein abzulenken, der seit bald fünf Wochen Trumps Glaubwürdigkeit vor allem bei den eigenen Wählern erschüttert. Viele Demokraten und Analysten erkennen darüber hinaus die Fortsetzung des Einsatzes der Nationalgarde und der Elite-Soldaten-Einheit der Marines in Los Angeles im Frühjahr.
Damals militarisierte Trump gegen den Willen des kalifornischen Gouverneurs Gavin Newsom die Sicherheitskräfte, um Proteste gegen seine als willkürlich empfundene Abschiebungspolitik gegen illegale Einwanderer zu ersticken. Der demokratische Strategie-Berater Marc Elias ist davon überzeugt, dass Trump die Amerikaner „langsam an die Präsenz von Militär im Inland gewöhnen will”. Dazu erfinde er eine „falsche Erzählung” von angeblich extrem gestiegenen Kriminalitätsraten und legitimiere mit falschen Rechtfertigungen den Missbrauch von Notstandsbefugnissen.
Beleg: Statistiken der Bundespolizei FBI zeigen, dass die Zahl der Gewaltverbrechen, einschließlich Mord, im vergangenen Jahr landesweit deutlich zurückgegangen ist. Davon abgesehen: Washington DC mit seiner mehrheitlich schwarzen und demokratisch wählenden Bevölkerung dient Trump seit Jahrzehnten als Buhmann.
Was sagen die Verantwortlichen vor Ort?
Auch Brian Schwalb, der Generalstaatsanwalt von Washington, nennt Trumps Aktion „beispiellos, unnötig und rechtswidrig“. Die vom Präsidenten behauptete Notlage bei der Kriminalität gebe es nicht. Trumps Aussage, wonach „unsere Hauptstadt von gewalttätigen Banden und blutrünstigen Kriminellen, umherziehenden Horden wilder Jugendlicher, drogenabhängigen Verrückten und Obdachlosen übernommen wurde“, entspreche schlicht nicht der Wahrheit.
Bürgermeisterin Muriel Bowser betont, dass Washington in den vergangenen beiden Jahren große Fortschritte gemacht habe. Die Kriminalität sei von 2023 auf 2024 um 35 Prozent zurückgegangen und damit auf dem niedrigsten Stand seit 30 Jahren. In diesem Jahr wurde ein erneuter Rückgang um 26 Prozent ermittelt. Der Washingtoner Stadtrat sieht in Trumps Maßnahmen „einen Eingriff in die lokalen Befugnisse und eine ungerechtfertigte Überschreitung seiner Kompetenzen”. Dort wird gefragt: „Wenn Trump so besorgt um die Sicherheit ist, warum hat sein Heimatschutzministerium dann die Sicherheitsausgaben für die Stadt fast um die Hälfte gekürzt?”
Bowser sind jedoch die Hände gebunden. Der „Home Rule Act” von 1973 erlaubt es dem Präsidenten, den Ausnahmezustand zu verhängen, um für jeweils 30 Tage die Kontrolle über die lokalen Strafverfolgungsbehörden zu übernehmen. Dabei muss der Kongress mitziehen. Langjährige Washingtonians schütteln den Kopf über Trumps Schilderungen einer von Kriminalität zerfressenen Stadt.
„Das war mal so in den späten 80er- und frühen 90er-Jahren”, sagt etwa Matthew Harbinger aus dem Stadtteil Chevy Chase, „damals war Washington in der Hand von Drogenbanden. Der damalige Bürgermeister wurde verhaftet, nachdem er beim Rauchen von Crack erwischt worden war. Und wir waren mit über 500 Morden im Jahr 1991 die Mord-Metropole Amerikas.” Und heute? Harbinger erinnert daran, dass Washington seit 25 Jahren kontinuierlichen Bevölkerungszuwachs verzeichnet, das Bruttoinlandsprodukt der Stadt um das Vierfache gestiegen sei und ganze Stadtteile, die vor 30 Jahren „No Go-Zonen" waren, heute beliebte Wohn- und Ausgehviertel sind.
Wie reagiert die Opposition?
Wütend - aber nicht überrascht. Die demokratische Senatorin Patty Murray warf Trump vor, „ein inkohärenter Möchtegern-Diktator zu sein, der versucht, Washington DC in seinen persönlichen Polizeistaat zu verwandeln“. Ihr Kollege Cory Booker bezeichnet den Einsatz von US-Streitkräften zur Durchsetzung einer politischen Agenda auf amerikanischem Boden als „groben Machtmissbrauch, der nach Autoritarismus riecht“. Nancy Pelosi, die frühere Sprecherin des Repräsentantenhauses, erklärte, Trump tue dies, „um von seiner inkompetenten Misshandlung von Zöllen, Gesundheitswesen, Bildung und Einwanderung abzulenken”. Wes Moore, Gouverneur von Maryland: „Trump benutzt einfach ehrenwerte Männer und Frauen als Schachfiguren, um uns von seiner Politik abzulenken, die weiterhin die Arbeitslosigkeit in die Höhe treibt und denjenigen, die sie am dringendsten benötigen, die Gesundheitsversorgung und Lebensmittelhilfe entzieht.”
Was sticht bei der Kritik hervor?
Dutzende Politiker wie Kommentatoren weisen darauf hin, wie selektiv Trump mit dem Einsatz von Nationalgarde und anderen Sonder-Einheiten umgeht. Vor fünf Jahren erklärte Trump nach dem Polizeimord an George Floyd den Notstand, als in Washington Tausende am Weißen Haus auf die Straße gingen. Nationalgardisten in gepanzerten Fahrzeugen patrouillierten im Regierungsviertel. Dutzende Demonstranten, die meist friedlich gegen unprovozierte Polizeigewalt aufbegehrten, wurden festgenommen.
Als am 6. Jänner 2021 ein von Trump persönlich angestachelter Mob das Kapitol stürmte, um die Zertifizierung des Wahlsieges von Joe Biden zu verhindern, blieb der Präsident in den letzten Tagen seiner ersten Amtszeit hingegen stundenlang tatenlos. Weder setzte er schnell die Nationalgarde in Marsch noch Tausende von Bundespolizisten, die unter seinem Kommando standen. Später begnadigte er sogar rund 1.500 Marodeure, die wegen teils schwerer Verbrechen gegen die Polizei verurteilt worden waren.
Seit den 80er-Jahren, damals noch als Geschäftsmann in New York, wettert Trump gegen Bilder von städtischem Verfall und Verwahrlosung und fordert regelmäßig ein hartes Durchgreifen der Strafverfolgungsbehörden. Als auf dem Höhepunkt der Black Lives Matter-Bewegung in einigen Städten Plünderungen stattfanden, warb er offensiv für den Einsatz von Schusswaffen.
Warum ist der Erfolg der von Trump angekündigten Maßnahmen zweifelhaft?
Bei seiner Erzählung von der Kriminalitätshochburg Washington konzentriert sich Trump auf touristische Visitenkarten wie die „Mall” im Regierungsviertel und andere Teile der Innenstadt. Hier soll die Präsenz von Nationalgarde und FBI für mehr Sicherheit sorgen. Die traditionell mit Abstand höchsten Kriminalitätsraten in Washington sind jedoch in den wirtschaftlich benachteiligten Vierteln im Südosten (Anacostia) zu verzeichnen, wo sich so gut wie nie Touristen aufhalten.
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