Tausende vor Europas geschlossenen Toren gestrandet
"Nach Istanbul!“, ruft der junge Mann auf die Frage, wohin der Bus fährt, den er dringend erreichen will. Nicht ohne Bitterkeit in seiner Stimme. Er ist einer von vielen Migranten, die sich am türkisch-griechischen Grenzort Ipsala versammelt haben. Ihr Ziel war Griechenland und damit die Europäische Union. Aber der Traum löste sich sehr rasch in Rauch auf. Griechenland hielt die Grenzen mit aller Macht geschlossen, nur wenige schafften es hinüber – und das nur kurz.
So hatten es sich die Tausenden Flüchtlinge, die aus der Türkei raus wollen, nicht vorgestellt. Angetrieben hatte sie der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, der angekündigt hatte, „die Tore nach Europa“ geöffnet zu haben. Was die Migranten und Flüchtlinge nicht wussten: Europa hielt seine Tore verschlossen.
Lager an der Grenze
Während die Regierung von 80.000 Menschen sprach, die die Türkei nach Griechenland verlassen hätten, berichten türkische Grenzbeamte dem KURIER von höchstens 1.000 Menschen, die es über die Grenze geschafft hätten. Und von denen wurden einige aufgegriffen und zurückgetrieben. „Sie nahmen mich fest, schlugen mich, nahmen mein Mobiltelefon und meine Wertsachen und haben mich in einem Auto zurück an die Grenze gefahren“, erzählt ein junger Mann aus Afghanistan. Am Grenzübergang sperrt die türkische Polizei die Straße ab.
Auf dem Lehmweg daneben, der im Nirgendwo an der griechischen Grenze endet, schlurfen desillusionierte Migranten – darunter viele Familien – zurück. Dahinter unbewaffnete Soldaten, die den Migranten bedeuten, ihr Glück woanders zu versuchen. „Wir sagen ihnen, dass es hier nicht geht“, sagen sie. Woher dieser Befehl kommt, können oder wollen sie selbst nicht beantworten.
Grenzstraße
Ich habe alles auf diesen Tag gesetzt“, sagt ein Pakistani. „Jetzt muss ich mich wieder irgendwie durchschlagen.“ Immer mehr Busse und andere Transportfahrzeuge kommen in Ipsala an, nehmen die Migranten in Richtung Osten – in Richtung Istanbul – mit.
Ganz anders ist die Stimmung am Grenzübergang bei Edirne: Am Sonntagabend setzen die griechischen Sicherheitskräfte Tränengas ein, nachdem Migranten und Flüchtlinge den Grenzposten attackiert hatten. Reporter waren dort keine zugelassen. Die türkische Geheimpolizei wacht mit Argusaugen darüber, dass keine Journalisten ins Grenzgebiet gelangen. Trotzdem hallen Tränengas-Explosionen und Schreie durch die kalte Winternacht. Bei einem KURIER-Lokalaugenschein wenige Stunden zuvor hielten sich dort schätzungsweise 7.000 Menschen auf.
Von Zehntausenden Flüchtlingen konnte auch hier keine Rede sein. In Lagern, die in den vergangenen Stunden und Tagen beim Grenzübergang in der Nähe der türkischen Stadt Edirne entstanden sind, sammelten sich Hunderte Flüchtlinge und Migranten um Lagerfeuer, hackten Holz, warteten ab. Die Nacht hatten sie bei Temperaturen um den Nullpunkt verbracht, der Raureif auf den Feldern schmolz nur langsam in der Morgensonne.
„Sie haben uns gesagt, dass sie die Grenzen öffnen. Aber nicht, dass die Grenze zu Griechenland geschlossen bleibt“, sagt ein junger Afghane gegenüber dem KURIER. Seit zwei Jahren ist er in der Türkei, wartet auf eine Gelegenheit, weiter nach Europa zu kommen. „Erdoğan hat uns verarscht“, meinte er.
Es sind auffallend wenige Syrer, die auf dem Landweg nach Europa durchbrechen wollten und auffallend viele Familien. Den Großteil der Menschen bilden nach KURIER-Wahrnehmung Afghanen und Pakistani, auch viele Afrikaner sind darunter.
Fluss als Hoffnung
Kinder stemmen im Lager bei Edirne Steine, um sich die Zeit zu vertreiben und der Kälte zu trotzen. Junge Männer suchen auf Smartphones nach anderen Möglichkeiten, den Grenzfluss Mariza zu überqueren. „Man hat mir gesagt, dass es Schlauchboote am Fluss gibt“, sagt ein Mann aus Togo. Dass zumindest 66 Migranten zwar den Fluss überqueren konnten, dann aber von den griechischen Behörden aufgegriffen und zurückgeschickt wurden, ist ihm einerlei. „Ich will nach Europa“, sagt er.
Erblicken griechische Soldaten Boote, geben sie Warnschüsse ab. Wer trotzdem landet, wird dennoch nicht weiterkommen.
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