Ukrainischer IT-Boom: Aus Kiew in den Cyberspace

IT-Experten eines Internet-Service-Anbieters in Kiew.
Neue Start-ups und internationale Investoren sorgen für eine pulsierende IT-Szene in Kiew.

Auf dem Gelände einer ehemaligen Motorradfabrik prallen das alte und das junge Kiew aufeinander. In den Glasfassaden der Bürogebäude spiegeln sich die angrenzenden Fabrikhallen und verwitterten Rohbauten. Skulpturen zeitgenössischer ukrainischer Künstler schmücken die Grünflächen vor den Räumlichkeiten lokaler Startups. Und im Kaffeehaus diskutieren junge Menschen über einer dampfenden Schüssel Thai-Nudeln darüber, was sie sich unter einer idealen Bürokultur vorstellen.

Die „UNIT.City“ ist einer der ersten Innovationsparks der Ukraine und wird von vielen als Versuch gewertet, hier, inmitten der Hauptstadt Kiew, ein neues Silicon Valley zu errichten. „Dem widerspreche ich“, sagt Dominique Piotet, der im September 2019 zum neuen Vorstand ernannt wurde. „Es gibt nur ein Silicon Valley und davon lassen wir uns inspirieren.“

Ähnlich wie am berühmten Technologiestandort in Kalifornien versuchen auch die Investoren der UNIT.City Einrichtungen für Bildung, Business, Kultur und Freizeitangebote zu kombinieren. Deshalb wurden vor zwei Jahren auch ein Sportkomplex und eine kostenlose Programmierschule eröffnet. Den Software- und Technologie-Entwicklern soll so der Zugang zu allen nötigen Infrastrukturen gewährleistet werden, um ein schnelles Vorantreiben der Startups zu fördern und die Mitarbeiter an den Standort zu binden.

Chancen wahrnehmen

„Es ist hart in der Ukraine eine Firma zu gründen, aber es ist überall hart“, sagt Piotet. Er sagt, es sei ein Irrglaube zu denken, in Deutschland oder in den USA sei das Leben automatisch besser und einfacher. „Es ist an der Zeit, dass die jungen Menschen die Chancen wahrnehmen, die sie in der Ukraine haben.“

Vor dem Hintergrund der großen wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen, die viele junge Ukrainer seit Jahren in das Ausland abwandern lassen, spielt die Entwicklung und Förderung des IT-Sektors eine besondere Rolle. Dieser schafft einen neuen Arbeitsmarkt und eine Alternative. Das macht sich in den Blockchain-Unternehmen und 3D-Laboratorien der UNIT.City bemerkbar.

Manche der jungen Ukrainer haben im Ausland studiert, andere sind die Nachkommen einer Auswanderergeneration, die in Italien, Polen und Deutschland jahrelang als unterbezahlte Pflegekräfte oder Bauarbeiter gearbeitet haben.

Vergleichsweise viele Talente

Auch deshalb zählen die Informationstechnologien längst zu den wichtigsten Branchen in der Ukraine. Die jährliche Wachstumsrate von 26 Prozent und die hohe Anzahl an Softwareentwicklern im Land – mehr als 185.000 Personen sind in diesem Bereich tätig – locken auch internationale Investoren an.

„Was die Ukraine natürlich auch interessant macht für Investoren ist das Preisniveau. Für das Geld, für das man in der Ukraine fünf oder sechs Programmierer bekommt, bekommt man im Silicon Valley einen“, sagt der Österreicher Roman Scharf, Mitbegründer des Startup-Fonds Capital300.

Dass es in der Ukraine im Vergleich zu anderen osteuropäischen Ländern besonders viele junge Talente gibt, die bereits international erfolgreiche Startups wie „Grammarly“, einen Rechtschreib- und Grammatik-Assistenten, hervorgebracht haben, hat laut Scharf zwei Gründe. Die Nationalen Taras-Schewtschenko-Universität hat zu UdSSR-Zeiten eine der Top drei Orte für Mathematik und Physik gezählt.

Beste Mathematiker

„Da hat Mathematik auf dem höchsten Niveau stattgefunden. Sowas geht nicht verloren. In diesem Land gibt es extrem gute Mathematiker, die zu Programmierern wurden“, sagt Scharf. Zum anderen bemerke man in Großstädten wie Kiew und Charkiw, dass es einen Hunger nach Innovation und eine Begeisterung für Technologien gebe. „Die jungen Menschen in der Ukraine wissen, dass Informatik eine Möglichkeit ist, wie man eine Weltkarriere startet. Das ganze Thema Software spricht Menschen an, die sich für globale Themen interessieren.“

Die IT-Branche gehört heute zu den Top drei der Exportindustrien in der Ukraine, nach der Landwirtschaft und der Metallurgie – und hat für die neue Regierung Priorität. Sie will einen Fonds für Stipendien und Zuschüsse für IT-Studenten und -Wissenschaftler einrichten, damit eigene Projekte umgesetzt werden können.

Denn eine Schattenseite hat der Boom im IT-Bereich: Outsourcing. Internationale Konzerne wie Apple, Microsoft oder Samsung haben viele ihrer Tätigkeiten in die Ukraine ausgelagert und beschäftigen knapp die Hälfte der ukrainische Softwareentwickler. Der Mehrwert für die ukrainische Volkswirtschaft ist deshalb gering. „Wir müssen diesen Trend definitiv umkehren“, erklärt UNIT.City-Vorstand Piotet. „Wir müssen Unternehmen gründen, die Dienstleistungen und Produkte für das Ausland entwickeln. Aber zurzeit bietet das Outsourcing den Menschen Arbeitsplätze. Das ist wichtig.“

aus Kiew, von Daniela Prugger

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