Ukraine: Warum ein ganzes Land zu den Waffen greift

Ukraine: Warum ein ganzes Land zu den Waffen greift
Ein Militärpsychologe über den starken Wehrwillen der Bevölkerung.

Einer der unzähligen Checkpoints auf einer ukrainischen Landstraße, wenige Kilometer westlich des Flusses Dnepr. Männer schaufeln Erde in Sandsäcke, schlichten sie auf. Neben ihnen liegen Jagdwaffen, Schrotflinten, manchmal eine Pistole. Uniformen gibt es keine, höchstens ein gelbes Band am Arm, um im Ernstfall Freund und Feind auseinanderhalten zu können.

Im Ernstfall dürfte das jedoch deren kleinstes Problem sein: Es sind etwa 30 Männer, vom 13 Jahre alten Buben mit heller Stimme bis hin zum alten Mann, der nur mit Mühe den Schmerz verbirgt, den er beim Sandsackschleppen spürt.

Dieser zusammengewürfelte Haufen ist bereit, sein Dorf, seinen Straßenabschnitt gegen die vorrückende russische Armee zu verteidigen. Koste es, was es wolle.

"Ja, bis zum Tod"

Als sie ein Video der Kämpfe in Charkiw sehen – ein russischer Angriff wurde zurückgeschlagen –, jubeln sie, wollen es immer wieder sehen. Ob sie bereit sind, bis zum Ende gegen die russischen Streitkräfte zu kämpfen? „Ja, bis zum Tod!“

„Ganz andere Mentalität“

„Der Wehrwille in der Ukraine ist sehr hoch. Im Jahr 2015 etwa meinten 62 Prozent der Bevölkerung, dass sie für ihr Land kämpfen würden. In Österreich sind es 21 Prozent“, sagt Militärpsychologe Stefan Rakowsky zum KURIER. „Hier herrscht schon allein wegen der permanenten Bedrohung durch Russland eine ganz andere Mentalität.“

Ukraine: Warum ein ganzes Land zu den Waffen greift

Panzersperren gegen die vorrückende russische Armee

Eine Mentalität, die sich am ersten Tag der russischen Invasion in Charkiw nicht direkt bemerkbar machte, wohl aber nach den ersten Bombardements. Und dann sehr drastisch.Im Verbund mit regulären Soldaten schlugen rasch formierte, zivile Einheiten einen russischen Vorstoß zurück, kämpften Männer mittleren Alters zum ersten Mal in ihrem Leben – mit primitivsten Gewehren. „Ein Gewehr zur Hand nehmen, kann man gleich, auch es zu bedienen, ist nicht schwierig.

Problematisch wird es dann beim gefechtstechnischen Verhalten. Vor allem bei den Jungen. Hier haben viele ein verklärtes Bild, kennen Gefechte hauptsächlich von PC-Spielen, wo man vielleicht einmal ausfällt, aber dann gleich wieder weiterkämpfen kann“, sagt Rakowsky.

Propaganda-Krieg

Doch woher speist sich die Bereitschaft, ohne Ausbildung in den Krieg zu ziehen? „Neben den klassischen Kriegsschauplätzen gibt es auch jenen an der Informationsfront – vor allem auf Sozialen Medien. Ukraines Präsident Wolodimir Selenskij zeigt sich dort in olivgrünen Leibchen, zeigt, dass er immer noch hier ist.“

Um die Fahne sammeln

Ein „Um-die-Fahne-Sammeln“ also, ähnlich wie in den USA nach dem Terror des 11. September 2011, als der damalige US-Präsident George W. Bush massive Zustimmungswerte bekam. „Zugleich präsentieren sich Politiker – auch Frauen – mit Waffen und zum Kampf gegen die russische Armee bereit. Das macht etwas mit einer Bevölkerung“, sagt Rakowsky.

„Wenn noch dazu ein Underdog wie die Ukraine militärische Erfolge erzielt und dies auf Sozialen Medien verdeutlicht wird, wirkt der Informationskrieg stärker. Das betrifft auch die Bevölkerung der westlichen Hemisphäre, die sich meist der Informationen bedient, die sie auf Sozialen Medien findet – und dort dominiert die Sicht der ukrainische Regierung.“

Nach dem Krieg – egal welches Ende er nimmt – werde viel psychologische Hilfe notwendig sein. Ein bis neun Prozent aller Soldaten würden nach einem Krieg an posttraumatischen Belastungsstörungen leiden, „für die Zivilbevölkerung werden die Folgen noch härter sein.

Auch wenn sich die Ukrainer aufgrund der Bedrohungslage besser auf einen Krieg einstellen konnten, deshalb resilienter sein dürften“, sagt Rakowsky.

Krisenfeste Österreicher?

Ob Österreich im Ernstfall auch krisenfest sein könnte? „Das schließe ich nicht aus. Allerdings wäre dafür eine Vorbereitung nötig. Wir lernen in der Schule viel über unsere Grundwerte, allerdings verschweigen wir, dass diese nicht gottgegeben sind. Diese Werte sind zu schützen –  das kann auch keine Neutralität, das kann nur eine schlagkräftige Armee“, so Rakowsky. Hier sei auch ein Schwerpunkt auf geistige Landesverteidigung gefragt.

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