Polit-Beben in Kiew: Selenskij verliert seinen mächtigen Stabschef
Weiterer Knalleffekt im großen, jüngst in der Ukraine aufgedeckten Schmiergeldskandal: Die Antikorruptionsbehörden haben am Freitag über eine Durchsuchung beim Leiter des Präsidentenbüros, Andrij Jermak, informiert. Die Maßnahmen gegen den mächtigen Stabschef von Präsident Wolodimir Selenskij seien Teil laufender Ermittlungen, teilten das Nationale Antikorruptionsbüro und die Antikorruptionsstaatsanwaltschaft in Kiew mit. Jermak zog am späten Freitagabend die Konsequenzen und trat zurück. Er habe "eine Rücktrittserklärung unterzeichnet", sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj in einer Videobotschaft.
Ist Selenskij damit aus dem Schneider? Was bedeutet der Schmiergeldskandal für den ukrainischen Staatschef? Und warum schickte dieser seine rechte Hand Jermak zu den Verhandlungen mit den USA?
Dazu die wichtigsten Fragen und Antworten.
Wer ist überhaupt Andrij Jermak?
Der 54-jährige Ukrainer galt als der zweitmächtigste Mann des Landes. Er war die wichtigste Stütze und rechte Hand Selenskijs, er organisierte dessen politisches Leben bis ins Detail; vielen Ukrainern galt der bullige Chef des Präsidialamtes darum aber schon lange als undurchsichtiger „Schattenpräsident“ – im Sommer hatte er sogar versucht, die Befugnisse jener Korruptionsermittler zu beschneiden, die ihn nun im Visier haben.
Ukraines Präsident Wolodimir Selenskij und sein Stabschef Andrij Jermak
Wie der Präsident war der sechs Jahre ältere Jermak nicht in der Politik, ehe Selenskij 2019 zum Präsidenten gewählt wurde. Da hatten sie bereits zusammen gearbeitet, Jermak als Anwalt und Produzent, Selenskij als Schauspieler. Der politisch unerfahrene Ex-Comedy-Star hatte Jermak mit in die Politik geholt. Heute ist er Selenskijs allerengster, wichtigster und vor allem mächtigster Vertrauter. Wer Jermak im Umfeld des Präsidenten nicht zu Gesicht steht, der wird entfernt.
Warum kam es zur Durchsuchung von Jermaks Büro?
Zumindest soll Jermak vom Korruptionsskandal gewusst haben. Es handelt sich um den größten Bestechungsskandal der jüngeren Geschichte des Landes: An die 100 Millionen Dollar aus dem Energiesektor sollen veruntreut worden sein.
„Es gibt keine Behinderungen für die Ermittler“, teilte Jermak in den Sozialen Netzwerken mit. Die Fahnder hätten vollen Zugang zu seiner Wohnung, seine Anwälte arbeiteten an Ort und Stelle mit den Ermittlern zusammen. „Von meiner Seite - volle Kooperation“, sagte der 54-Jährige .
Warum ließ Selenskij seinen Vertrauten lange nicht fallen?
Der ukrainische Staatschef betreut seine graue Eminenz zunächst sogar mit noch größeren Aufgaben, er schickte Jermak diese Woche zu den Ukraine-Friedensverhandlungen mit den USA nach Genf. Seine Ernennung als Delegationsleiter vorige Woche hatte Erstaunen bei politischen Beobachtern in Kiew ausgelöst: Der Präsident konnte Jermak wohl lange nicht fallen lassen, weil er eine viel zu große Rolle für ihn spielt.
Wer ist sonst noch in den Skandal involviert?
Zuletzt wurde auch Ex-Verteidigungsminister Rustem Umjerow von Korruptionsfahndern vorgeladen worden. Der Sekretär des Nationalen Sicherheitsrates gelte als Zeuge, meldete das Onlineportal „Ukrajinska Prawda“. Auch der 43-Jährige ist einer von Kiews Hauptunterhändlern bei den Gesprächen mit Kriegsgegner Russland und den USA.
Vor etwas mehr als zwei Wochen hatten ukrainische Korruptionsermittler die Erkenntnisse über Schmiergeldzahlungen öffentlich gemacht. Energieministerin Switlana Hryntschuk und ihr inzwischen als Justizminister tätiger Vorgänger Herman Haluschtschenko wurden seither entlassen. Es gab bereits mehrere Festnahmen.
Und was schadet Selenskij bei diesem Skandal am meisten?
Die Tatsache, dass sich sein langjähriger und enger Geschäftspartner Timur Minditsch bei diesem Skandal besonders frech die Millionen zur Seite geschaufelt hat. Die Verbindungen zwischen Selenskij und Minditsch waren eng. Der Präsident und seine Frau Olena besitzen eine Wohnung im selben Gebäude, er und Minditsch besaßen vor Jahren gemeinsam die Fernsehproduktionsgesellschaft Kwartal 95, mit der Selenskij berühmt wurde.
Minditsch hat das Land verlassen, bevor die Antikorruptionsbehörden bei ihm einmarschierten, er dürfte also rechtzeitig gewarnt worden sein. Er soll Kopf des riesigen Korruptionsrings sein, der in Summe 100 Millionen Dollar zur Seite geschafft haben soll. Die Gruppe, in die noch weitere Politiker und Top-Manager involviert waren, soll sich die „Kontrolle über Personalentscheidungen, Beschaffungsprozesse und Finanzströme“ beim staatlichen Atomkonzern Energoatom gesichert haben. Bei jedem Auftrag soll die Bande bis zu 15 Prozent der Auftragsumme als Bestechungsgeld kassiert haben.
Problematisch ist der Skandal für Selenskij auch, weil die Machenschaften auch den Bau von Schutzanlagen um Stromtransformatoren gegen russische Bombenangriffe betreffen.
Glaubt man der Opposition, könnte der Skandal auch Selenskij auch persönlich berühren: Als der Präsident im Frühsommer versucht hat, die Befugnisse der Antikorruptionsermittler zu beschneiden, soll er versucht haben, Minditsch zu schützen, so der Vorwurf. Ermittelt wurde gegen den Unternehmer nämlich schon seit geraumer Zeit.
Die Ermittler hatten in dem Zusammenhang auch Korruption im Verteidigungssektor und Kontakte zwischen Minditsch und Ex-Verteidigungsminister Umjerow beim Kauf von Schutzwesten für die Armee erwähnt. Umjerow selbst hat wiederum jede Verwicklung in die Schmiergeldaffäre vehement bestritten. Den Posten des Verteidigungsministers bekleidete er von September 2023 bis Juli 2025.
Hinweis: Der Artikel wurde um 16.46 mit der Meldung vom Rücktritt Jermaks aktualisiert
Kommentare