Wie aktiv ist die Regierung Selenskij?
Fragt man Aktivisten, sind die Bemühungen Kiews groß. Seit dem Maidan wurden einige Institution zur Korruptionsbekämpfung gegründet, darunter ein Höchstgericht, dessen Fallzahl jährlich steigt – 2022, mitten im Krieg, hat es 56 hochrangige Personen verurteilt, heuer bereits 43. Dazu kommt eine Transparenzdatenbank, die Einkommen und Besitztümer von Beamten und Politikern öffentlich einsehbar macht – bis hin zur „schicken Ferienwohnung in Wien“, sagt Iryna Shyba von der EU-Anti-Korruptions-Initiative in Kiew. Daran könne man ablesen, ob der Lebensstil zum Einkommen passt oder auf Bestechungsgelder schließen lässt. Zudem werden alle Staatsaufträge öffentlich gelistet, inklusive der Preise für eingekaufte Waren – so lässt sich prüfen, ob überteuert gekauft wurde.
Im Westen wird vom korruptesten Land Europas gesprochen. Ist das falsch?
Nein. Transparency International listet die Ukraine auf Platz 116 von 180 Ländern, nur Russland liegt in Europa dahinter (Platz 137). Allerdings beruht das Ranking auf der Wahrnehmung der Bürger, und die stufen laut Shyba Korruption als größtes Problem nach dem Krieg ein. Im Rule of Law-Index, einem ähnlichen Messinstrument zur Rechtsstaatlichkeit, liegt die Ukraine deutlich besser – sogar vor Serbien.
Wie stark merkt man Korruption im Alltag?
Deutlich weniger als vor zwei Jahren, heißt es. „Der Krieg hat viel verändert“, sagt Olena Haluschka von der NGO Anti-Corruption Action Center. Die Haltung sei: Wer dem Staat Geld wegnehme, spiele Putin in die Hände – das mache Korruptionsbekämpfung leichter.
War es vor Kurzem problemlos möglich, seinen Führerschein ohne viele Fahrstunden und gegen Geld zu bekommen, sei das nun fast unmöglich – fast alle Behördenwege wurden digitalisiert, jeder hat eine App, über die das erledigt wird. „Digitalisierung eliminiert den Mittelsmann, der Bestechungsgeld annehmen könnte. So kommt keiner in Versuchung.“ Am Land, sagt Marketingmanagerin Marija aus Kiew, sei Alltagskorruption aber schwerer in den Griff zu bekommen. „Da ist es noch normal, dem Hausarzt ein Geschenk mitzunehmen, um behandelt zu werden“, erzählt sie. Das war in den 1990ern Alltag: Staatsdiener erhielten oft monatelang kein Gehalt, deshalb etablierten sich damals solche Anfütterungssysteme.
➤ Mehr lesen: Atomtests: Putins apokalyptische Drohung
Wie beherzt ist Selenskij selbst?
Das sei schwierig zu sagen, meinen die Expertinnen. „Selbst wenn er das Thema nicht favorisiert, muss er Druck machen, um den Krieg zu gewinnen“, sagt Shyba – EU und USA haben Finanzhilfen an das Thema geknüpft. Haluschka spricht von einem „Sandwich-Effekt“: Der Westen fordere das ein, auch die Zivilgesellschaft sei laut. Ein Versuch, das Transparenzregister wieder etwas abzumildern, wurde jetzt etwa mit Petitionen und offenen Briefen gestoppt. „Für junge Menschen in der Ukraine ist Korruption ,cringe, also schauderhaft“, sagt Shyba – da bleibe der Politik nicht mehr so viel Spielraum wie früher.
➤ Was wäre, wenn die Ukraine in der EU wäre?
Wo sind die Baustellen?
Das Problem Korruption auf höherer Ebene, nicht mehr bestechliche Polizisten, die Schutzgeld erpressen, so die Expertinnen – und das Rechtssystem, das von korrupten Richtern durchsetzt sei. 2500 der 7000 Richterstellen sind darum heute vakant, weil man bei der Bestellung korrupte Auswahlorgane befürchtete. Jetzt sitzen ausländische Experten in den Gremien, was „manche Bewerber gleich abschreckte“, sagt Haluschka – doch der Wandel vollziehe sich nur langsam. Dazu kommen die zu laschen Gesetze gegen die Oligarchen, wie auch die Kommission bekrittelt hat.
Die Stimmung in der Bevölkerung aber werde besser, sagen beide. Janukowitschs Villa ist nun ein Museum – und die goldene Toilette, die er angeblich besaß, kann man als Kühlschrankmagnet kaufen.
Kommentare