Wie korrupt ist die Ukraine wirklich?

Proteste in Kiew für eine bessere Ausstattung und Bezahlung der Armee – und gegen die Korruption dort
Bestechliche Politik, Schmiergeld überall – die Liste der Vorwürfe gegen die Politik ist lang. Aber stimmen sie? Ein Faktencheck mit Experten und Betroffenen.

"Beeindruckend“, nannte EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen den Fortschritt, den die Ukraine in puncto Reformen gemacht habe. Gehört damit die Ära von Schmiergeld und Bestechung der Vergangenheit an?
Der KURIER hat sich bei Korruptionsjägern und Menschen, die Bestechung erlebten, umgehört - und beantwortet die wichtigsten Fragen.

Warum hat die Ukraine überhaupt so stark mit Korruption zu kämpfen?

Die Ursprünge des Problems liegen in der Sowjetzeit. Ähnlich wie in Russland fehlten nach  1991 unabhängige, demokratische Institutionen, die Bürger hatten kein Vertrauen in den Rechtsstaat. In dieses Vakuum drangen Oligarchen, die sich über dubiose Wege Staatsbetriebe sicheren – und damit Einfluss auf Institutionen und Politik.

Viele dieser Milliardäre wurden aus Moskau alimentiert, so behielt  der Kreml Kontrolle über den jungen Staat. Putin hat dieses  System massiv ausgebaut, unter seinem Günstling Viktor Janukowitsch – der am Rande Kiews ein Anwesen mit Zoo, Spa, Oldtimersammlung und eigener Tankstelle besaß – begehrten  viele Ukrainer bei der Maidan-Revolution auf.

Ja, aber: EU öffnet Tür für Ukraine und macht Balkanländern Hoffnung

Wie aktiv ist die Regierung Selenskij?

Fragt man Aktivisten, sind die Bemühungen  Kiews  groß. Seit dem Maidan wurden  einige Institution zur Korruptionsbekämpfung gegründet, darunter ein Höchstgericht, dessen Fallzahl jährlich steigt  – 2022, mitten im Krieg, hat es 56 hochrangige Personen verurteilt, heuer bereits 43. Dazu kommt eine Transparenzdatenbank, die Einkommen und Besitztümer von Beamten und Politikern öffentlich einsehbar macht – bis hin zur „schicken Ferienwohnung in Wien“, sagt  Iryna Shyba von der EU-Anti-Korruptions-Initiative in Kiew. Daran könne man ablesen, ob der Lebensstil zum Einkommen passt  oder auf Bestechungsgelder schließen lässt.  Zudem werden alle Staatsaufträge öffentlich gelistet, inklusive der Preise für eingekaufte Waren – so lässt sich prüfen, ob überteuert gekauft wurde.

Im Westen wird vom korruptesten Land Europas gesprochen. Ist das falsch?

Nein. Transparency International listet die Ukraine auf Platz 116 von 180 Ländern, nur Russland liegt in Europa dahinter (Platz 137). Allerdings beruht das Ranking auf der Wahrnehmung der Bürger, und die stufen laut Shyba Korruption als größtes Problem nach dem Krieg  ein. Im Rule of Law-Index, einem ähnlichen Messinstrument zur Rechtsstaatlichkeit, liegt die Ukraine deutlich besser – sogar vor Serbien.

Wie stark merkt man Korruption im Alltag?

Deutlich weniger als vor zwei Jahren, heißt es. „Der Krieg hat viel verändert“, sagt Olena Haluschka von der NGO Anti-Corruption Action Center. Die Haltung sei: Wer dem Staat Geld wegnehme, spiele Putin in die Hände – das mache Korruptionsbekämpfung leichter. 

War es vor Kurzem problemlos möglich, seinen Führerschein ohne viele Fahrstunden und gegen Geld zu bekommen, sei das nun fast unmöglich –  fast alle Behördenwege wurden digitalisiert, jeder hat eine  App, über die das erledigt wird. „Digitalisierung eliminiert den Mittelsmann, der Bestechungsgeld annehmen könnte. So kommt keiner in Versuchung.“ Am Land, sagt Marketingmanagerin Marija aus Kiew, sei Alltagskorruption aber schwerer in den Griff zu bekommen. „Da ist es noch normal, dem Hausarzt ein Geschenk mitzunehmen, um behandelt zu werden“, erzählt sie. Das war in den 1990ern Alltag: Staatsdiener erhielten oft monatelang kein Gehalt, deshalb etablierten sich damals solche Anfütterungssysteme.

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Wie korrupt ist die Ukraine wirklich?

Präsident Selenskij ist nach außen hin sehr aktiv: Er ließ sogar Ihor Kolomojskij, einen der mächtigsten Oligarchen der Ukraine, wegen Geldwäsche und Betrugs verhaften. Der Milliardär hatte Selenskij selbst mit seinem TV-Sender beim Aufstieg als Komiker geholfen

Wie beherzt ist Selenskij selbst?  

Das sei schwierig zu sagen, meinen die Expertinnen. „Selbst wenn er das Thema nicht favorisiert, muss er Druck machen, um den Krieg zu gewinnen“, sagt Shyba –  EU und USA haben Finanzhilfen an das Thema geknüpft. Haluschka spricht von einem „Sandwich-Effekt“: Der Westen fordere das ein, auch die Zivilgesellschaft sei laut. Ein Versuch, das Transparenzregister wieder etwas abzumildern, wurde jetzt etwa mit Petitionen und offenen Briefen gestoppt. „Für junge Menschen in der Ukraine ist Korruption ,cringe, also schauderhaft“, sagt Shyba – da bleibe der Politik nicht mehr so viel Spielraum wie früher.

Was wäre, wenn die Ukraine in der EU wäre?

Wo sind die Baustellen? 

Das Problem  Korruption auf höherer Ebene, nicht mehr bestechliche Polizisten, die Schutzgeld erpressen, so die Expertinnen – und  das Rechtssystem, das  von korrupten Richtern durchsetzt sei. 2500 der 7000 Richterstellen sind darum heute vakant, weil man bei der Bestellung korrupte Auswahlorgane befürchtete. Jetzt sitzen ausländische Experten in den Gremien, was „manche  Bewerber gleich abschreckte“, sagt Haluschka – doch  der Wandel vollziehe sich nur langsam. Dazu kommen die zu laschen Gesetze gegen die  Oligarchen, wie auch die Kommission bekrittelt hat. 
Die Stimmung in der Bevölkerung aber werde besser, sagen beide. Janukowitschs Villa ist nun ein Museum – und die goldene Toilette, die er angeblich besaß, kann man als Kühlschrankmagnet kaufen.

 

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