Bomben, Schlamm, Tote: Zwei Soldaten erzählen vom Überleben an der Front

Ausnahmezustand: Teils sind Soldaten ein Jahr durchgehend an der Front (Symbolbild)
Ein Jahr. 365 Tage, in denen er im Dreck schlief, zum Teil ohne Essen auskam, manchmal tagelang nicht wusste, ob er die Stimme seiner Freundin je wieder hören würde. In denen der Beschuss nicht aufzuhören schien, der Schlamm in jede Pore kroch, die Kälte sowieso, und in dem die Bomben irgendwann zum Hintergrundrauschen wurden.
So lang war Sarmat nicht mehr zu Hause. So lang war er durchgehend an der Front.
Wie hält man das nur aus?
Eine „normale“ Arbeit
Sarmat lächelt milde. „Das ist normal“, sagt er, als wir ihn im Videocall erreichen. Der 31-Jährige hat gerade Pause, sitzt im Lager seiner Einheit wenige Kilometer hinter der eigentlichen Front. Er trägt ein braunes Shirt, der Raum ist abgedunkelt.
30 Tage Urlaub hat jeder Soldat in der Ukraine, die kann er sich am Stück oder in zwei Teilen nehmen. Einfach die Zelte abbrechen, sagen, ich will nicht mehr, das ist nicht vorgesehen an der Front. Und das will auch keiner, gibt Sarmat zu verstehen. „Irgendwann wird es zu einer gewöhnlichen Arbeit“, sagt er.
Gewöhnlich, normal, das sind Begriffe, die haben in der Ukraine seit dem 24. Februar 2022 eine andere Bedeutung. Für Sarmat hieß das früher, ein Spielecafé in Donezk zu haben, Geld mit der Freude anderer zu verdienen. Für Ihor Zhaloba hieß es, in Kiew im Hörsaal zu stehen, und die Geschichte seines Landes zu unterrichten. Jetzt hat der 59-Jährige Fronturlaub, besucht ehemalige Kollegen in Wien. Als er in einem Wiener Cafe eine Stunde lang von seiner neuen Arbeit, seinem neuen Leben als Soldat erzählt, rührt er seinen Tee kaum an.
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Im Dunkeln
Ihor und Sarmat sind zwei von geschätzt einer halben Million Menschen, die die Ukraine seit der Invasion der Russen verteidigen. Beide meldeten sich freiwillig, am Tag nach dem Einmarsch, beide hatten kaum Erfahrung. Jetzt fliegen sie Drohnen, kundschaften die Gegend aus, aus der die Russen sie beschießen.
„Vater“ nennen sie Ihor an der Front, das passt zu ihm. Er wirkt wie ein Kümmerer, erzählt oft von den eigenen zwei Töchtern und seiner Frau, einer Medizinerin. An der Front hat jeder einen Kampfnamen, auch Sarmat ist so einer. Wie er wirklich heißt, will der 31-jährige nicht sagen, denn er ist noch im Einsatz. Auch wo er stationiert ist, soll niemand wissen – das ist die Auflage der Armee für das Interview mit ihm. Vor der Invasion hat er in Kiew gelebt, erzählt er, doch da war er schon lange nicht mehr. Die Front hingegen kennt er in ihrer ganzen Länge. Seine Einheit wird immer dort eingesetzt, wo es gerade besonders kracht.
Mehr will er nicht sagen. Die ukrainische Armee lässt vieles im Dunkeln. Nichts soll der Feind wissen über Ziele, Strategien, Positionen. Nicht mal, wie viele es nicht mehr nach Hause geschafft haben. Jeder Tote mehr stärkt die Russen, heißt es bei der Armee, und auch die eigene Moral leidet, wenn die Zahlen steigen. 70.000 sollen es bisher sein, schätzt das Pentagon. Viele davon ohne Grab. „Der Tod ist immer da“, sagt Sarmat. „Man gewöhnt sich an ihn, manche schneller, manche langsamer.“
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Vergangenes Jahr um diese Zeit war die Euphorie in der Ukraine groß. Ganz Cherson befreit, die Region Charkiw ebenso – es schien greifbar, dass über den Sommer weitere Gebiete rückerobert werden.
Gelungen ist das nur in geringem Ausmaß. Die große Offensive der ukrainischen Streitkräfte blieb stecken, wohl auch deshalb, weil Kiew die Luftüberlegenheit fehlte – Kampfjets aus dem Westen kommen frühestens nächstes Jahr. Die Russen gruben sich in ihren Stellungen ein, verminten jene Zonen, aus denen sie sich zurückzogen, und erschwerten den Ukrainern ihre Vorstöße.
Die Kämpfe konzentrierten sich zunächst auf Städte, in denen die Russen sich verschanzten, Robotyne etwa, das im Sommer unter gewaltigem Material- und Menscheneinsatz befreit wurde. Derzeit schauen alle auf Awdiiwka im Oblast Donezk – in der völlig zerstörten Stadt halten die Ukrainer die Stellung. Noch zumindest.
In der Hölle
Seinen letzten Kameraden verlor Ihor im Herbst in Robotyne, einen anderen in Bachmut. Beide Orte stehen sinnbildlich für die Widerlichkeit des Krieges: leichengepflasterte Steinwüsten, dem Erdboden gleichgemacht.
„Hölle“ sagen sie zu Robotyne, weil Soldaten dort für ein paar Zentimeter Landgewinn sterben. „Fleischwolf“ hieß es bei Bachmut, weil keine Schlacht in der Ukraine davor und danach so viele Menschen verschlungen hat. Beiden Orten ist Ihor entkommen: Nach Bachmut ließ ihn der Arzt nicht, er lag mit Lungenentzündung im Krankenhaus. „Ich habe meinen Kommandanten angeschrien, dass ich mit will“, sagt er heute. Sein Freund, der Kommandant, kam nicht wieder.
In Robotyne ging das Sterben weiter, mit 23 Mann gingen sie hin, 19 kamen gesund zurück. Drei schwer verletzt, einer tot, sagt Ihor. „Wir waren immer unter Beschuss, fünf, sechs Meter neben mir krachten die Raketen in den Boden.“ Schlafen konnte er trotzdem. Einmal, da sei er in seinem Bett geblieben, als die anderen in den Keller flohen. „Aufgewacht bin ich dann mit Schutt bedeckt.“
Berichte von der Front, das Sterben der Soldaten: Das kennt man auch hier seit bald zwei Jahren. Im Westen wird darüber gestritten, wie viel man überhaupt noch helfen kann, wo die roten Linien sind. Und so richtig hinschauen auf das Grauen mag auch niemand mehr.
Was macht das mit einem, der im Schützengraben seit zwei Jahren die Stellung hält?

Ihor Zhaloba (59) war Uni-Professor, jetzt steuert er Drohnen
„Ihr verliert auch“
Ihor schaut aufs Handy, seine Tochter hat ihm gerade eine Nachricht geschickt. Sie sitzt in ihrem Badezimmer in Kiew, dem einzigen fensterlosen Raum, es fallen wieder Bomben. „Wenn wir verlieren, verliert ihr auch“, sagt er. Eine leise Erinnerung daran, dass Putin dem ganzen Westen den Krieg erklärt hat. Und dass der Mann im Kreml nicht mit rationalen Maßstäben zu greifen ist.
Unter den Soldaten, da mache sich langsam Unzufriedenheit breit, sagt Ihor. „Es ist normal, müde zu sein, ich bin es ja auch“, sagt er. Aber viele hätten das Gefühl, an der Front viel geleistet zu haben, während im Hinterland zu wenig weiter gehe. Die Nachrichten aus Brüssel, die Blockadepolitik Orbans gegenüber der Ukraine etwa, die versuche er auszublenden. „Es gibt zu viele Politiker und zu wenige Staatsmänner“, sagt er. Auch für Sarmat ist nach zwei Jahren Dauereinsatz klar: Verhandelt wird nur über Putins Kapitulation. Sonst nichts.
Die Durchhalteparolen funktionieren noch, doch persönlich sieht die Sache oft anders aus. Das Adrenalin der ersten Monate ist verflogen. Die Aussicht, Putin wirklich schlagen zu können, ist einem Gefühl der Normalität gewichen. Oder wie Ihor es sagt: „Die innere Verantwortlichkeit ist die gleiche geblieben. Nur das Gefühl ist ein anderes.“
Er weiß um die Absurdität dieses Krieges. „Sinnlos, verschwenderisch“ sei jeder Krieg, das habe die Forschung eindeutig belegt, da spricht jetzt der Professor aus ihm. „Aber der Mensch ist einfach nicht so weise wie er sich selbst sieht“, sagt er. Anders gesagt: Der Krieg bringt nichts. Gewinnen muss ihn die Ukraine trotzdem.
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