Wie geht es in der Ukraine weiter? "Beide Seiten sind erschöpft"

Die Wortwahl war mehr als verdächtig. „Umgruppierungen“ müsse Russland am Ostufer des Dnipro vornehmen, die eigenen Truppen würden in „günstigere Positionen“ verlegt, meldeten staatliche Nachrichtenagenturen am Montag. Behübschungen wie diese kennt man aus Moskau: Genau mit diesen Worten wurde vor gut einem Jahr zähneknirschend vermeldet, dass Russland große Gebiete um Cherson und Charkiw an die Ukraine zurückgeben musste.
Freilich: Lange war das Ganze nicht zu lesen, die Agenturen löschten die Texte mit dem Verweis, man sei gehackt worden. Dass zeitgleich allerdings aus der Ukraine zu hören war, dass die Streitkräfte in genau jener Zone der russischen „Umgruppierungen“ gelandet seien, also den Dnipro überquert und damit ein gutes Stück zur Krim zurückgelegt hätten, ist dann aber doch verwunderlich. Ist der Ukraine doch noch ein Durchbruch gelungen?
„Begrenzter Erfolg“
Militäranalyst und Politikberater Franz-Stefan Gady ist eher vorsichtig. Er hält den Vorstoß auf das andere Ufer des Dnipro zwar für einen Erfolg, aber für einen „lokal begrenzten“. Den Truppen dort würde nämlich Unterstützung fehlen, Nachschub über den 800 Meter breiten Fluss sei sehr kompliziert. „Am Ostufer gibt es zudem es kaum befahrbare Straßen, alles ist sumpfig.“ Dass daraus ein großer Durchbruch resultiere, sei zwar nicht ausgeschlossen, derzeit aber eher unwahrscheinlich.
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Gady war vor Kurzem selbst an der Front. Seine Prognosen für die kommenden Monate sind nicht gerade optimistisch: Denn obwohl die Moral der Soldaten an der Front hoch sei und man kämpfen wolle, sei auch die Müdigkeit groß. „Beide Seiten sind erschöpft“, sagt Gady. Von der Ukraine sei darum „keine große Offensive“ mehr zu erwarten, aber auch bei den Russen rechne er nicht damit.
Was das für die Strategie der Ukraine heißt? Kiews Generalstabschef Walerij Saluschnyj warnte ja kürzlich öffentlich davor, dass die Kämpfe in einem Patt, in einen kräfteraubenden Stellungskrieg münden könnten, der an den Ersten Weltkrieg erinnere – endloser Kampf, viel Beschuss und noch mehr Tote, aber kaum Bewegung an der Front. Ein solches Szenario schließt auch Gady nicht aus, weshalb er einen Strategiewechsel sinnvoll fände: einen Wechsel der ukrainischen Streitkräfte in die Defensive, um im kommenden Jahr Kräfte zu sammeln .
Das wiederum ist innenpolitisch in der Ukraine gar nicht so leicht durchzusetzen. Schon Saluschnyjs Warnungen, die er im US-Magazin Economist veröffentlichte, wurden in Kiew nur grummelnd zur Kenntnis genommen, schließlich lautet die Devise nach wie vor Rückeroberung aller besetzten Gebiete. Ein Ziel, das selbst ukrainische Militärexperten in absehbarer Zeit nicht für erreichbar halten.
Unplanbare West-Hilfe
Die Kampfansagen braucht es aber, um die Moral der Bevölkerung aufrecht zu erhalten – und vor allem die jener Reservisten, die noch an die Front geschickt werden könnten. Gebraucht wird sie auch, um die Unterstützung im Westen nicht zu verlieren: In vielen europäischen Ländern hat man das Problem, dass Populisten von links und rechts die Hilfe für die Ukraine infrage stellen, da es zu wenig sichtbaren Erfolg gibt. Eine Einstellung der Waffenhilfen wird dann mit der Formel „der Krieg ist für die Ukraine ohnehin nicht zu gewinnen“ unterfüttert.
Politische Spannungen in dieser Frage erwartet auch Gady. Allerdings hält er das Bild vom fordernden Westen, der in Kiew massiv Druck für Verhandlungen mache, für „überzeichnet“. „Die westliche Hilfe wird erhalten bleiben“, sagt er. Problematischer als der politische Wille seien ohnehin die schwindenden Ressourcen des Westens, denn die Arsenale leeren sich zusehends. Während Russland Nachschub aus Nordkorea bezieht, musste die EU eingestehen, dass man das Versprechen, eine Million Artilleriegeschosse in die Ukraine zu liefern, nicht halten kann.
Das hat übrigens bereits jetzt unangenehme Auswirkungen an der Front. Weil die Soldaten nicht wissen, wann sie wie viel Munition bekommen, können Angriffe nicht geplant werden – nachhaltige Strategieplanung macht das fast unmöglich.

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