„Das Schlimmste ist, wenn es still ist. Ich kann Stille nicht mehr ertragen. Stille ist verräterisch – irgendwas muss doch gleich passieren.“ Hektor (Kampfname, Anm.) sitzt in einem verlassenen Bauernhaus unweit der Front an der ukrainisch-russischen Grenze bei Kursk.
Immer wieder dringen Explosionsgeräusche durch das zerborstene Fenster. Doch nach der Frage, wie er nach mehr als sechs Monaten Kursk-Operation einschlafen könne, war es lange still. „Du liegst im Bett und dann kommen all die Erinnerungen. Du weißt, es geht wieder zurück – in das Gelände, das du kennst. In dem du manchmal nur knapp überlebt hast. Und dennoch musst du wieder dorthin.“
Im Lazarett
Hektors Augen blicken ins Leere, während er spricht. Dann fasst er sich. Der Blick wird schärfer. „Zu Beginn der Kursk-Operation war ich noch im Lazarett. Eine beschissene FPV-Drohne (First-Person-View-Drohne, Anm.) hätte mich fast getötet. Ich konnte eine mit dem Gewehr abschießen, die zweite flog auf mich zu. Ich konnte gerade noch in einen Graben springen, sodass die Drohne neben mir explodierte. Ein Schrapnell traf mich im Gesicht, ein anderes meine Hand“, erzählt Hektor.
Er ist Gruppenkommandant in der 47. Mechanisierten Brigade. Jenem Verband, der an den gefährlichsten Orten der Front kämpft: Bachmut, Gegenoffensive von 2023, Awdijiwka, Pokrowsk – und ab September vergangenen Jahres die Kursk-Offensive.
Am 6. August vergangenen Jahres rückten ukrainische Truppen auf russisches Territorium vor, nahmen die Stadt Sudscha ein – und rückten in Richtung des Kursker Atomkraftwerks vor – das sie aber nie erreichen sollten. Welche strategischen Ziele die ukrainische Führung mit dieser Operation verfolgte, wussten Hektor und seine Kameraden nicht: „Wir kannten unsere Aufträge – und hatten genug damit zu tun, diese zu erfüllen“, sagt Hektor. Seine zwei Kameraden „Bagder“ und „Senja“ – ebenfalls Gruppenkommandanten – nicken.
„Schon alleine die Motivation jener Männer zu erhalten, für die ich verantwortlich bin – das ist Arbeit genug“, sagt Badger. Er ist der Einzige der drei, der verheiratet ist, zwei Kinder hat.
Ob er in Kursk viel an seine Familie gedacht hat? „Wenn die Versorgung unterbrochen ist, die Russen den Nachschubweg mit Drohnen kontrollieren, etwa jedes zweite Fahrzeug zerstört wird und wir zu Fuß Nachschub unter ständiger Gefahr holen müssen, bleibt wenig Zeit. Aber in der wenigen Zeit, die mir blieb, umso mehr“, sagt der 47-Jährige.
„Niemand will im Ausland kämpfen – wir verteidigen unser Land. Aber die Regierung in Kiew hoffte wohl, dass diese Operation der Ukraine eine bessere Position während den Verhandlungen gibt“, sagt der Kompaniekommandant, Kampfname „Musikant“.
Bis zum 24. Februar 2022 war er Musiklehrer, meldete sich freiwillig – und stieg bis zum Offizier auf. „Ich kenne die Sicht eines einfachen Soldaten, ebenso die eines Unteroffiziers – das ergibt in Extremsituationen viel Sinn“, sagt er.
Niemand will über die Toten in der eigenen Kompanie sprechen – die Blicke nach der Frage sprechen Bände.
Ebenso der Verlauf der Kursk-Operation: Nach anfänglichen Erfolgen antworteten die russischen Streitkräfte – später im Verbund mit etwa 14.000 nordkoreanischen Soldaten – mit massivem Druck. FPV-Drohnen, gesteuert durch Mikrofaserkabel, schafften es ab Jänner, die Nachschubwege der Ukrainer massiv zu stören. Bis zu 20 Kilometer tief können diese Drohnen fliegen, zumeist sind sie nicht detektierbar.
Todesgefahr Drohnen: „Wenn du das Sirren einer Drohne hörst, bewege dich so wenig wie möglich“
Das Sirren der Drohnen
Wie kann man sich am besten gegen solche Drohnen verteidigen? Hektor, Badger und Senja seufzen. „Wenn du das Sirren hörst, bewege dich so wenig wie möglich, verstecke dich hinter einem Baum, in einer Senke – und hoffe, dass sie dich nicht gesehen hat. Sieht sie dich, verfolgt sie dich hartnäckig – und deine Chancen sind gering“, sagt Senia.
„Ich bin einmal direkt auf eine FPV-Drohne zugelaufen. Ihr Pilot dürfte so irritiert sein, dass die Drohne wendete – in diesem Moment habe ich sie abgeschossen“, sagt Hektor. „Aber das war mehr eine Verzweiflungstat“.
„Auf offenem Gelände ist es fast unmöglich, eine Drohne zu überlisten, zu Fuß hat man eigentlich keine Chance. Wenn wir vorrücken, dann nur mit Fahrzeugen und Panzern – die natürlich auch wieder ein lohnendes Ziel bieten, aber eben sicherer sind“, sagt Badger. „Wenn alles nichts hilft: feuern mit allem, was man hat.“
Einige Wochen nachdem der Nachschub de facto zusammengebrochen war, starteten die russischen und nordkoreanischen Truppen eine Offensive. „Wir waren 1 zu 6 unterlegen, zeitweise 1 zu 10 – wir mussten uns zurückziehen“, sagt Musikant.
Wie ist es möglich, in einem solchen Umfeld die Motivation der Soldaten zu erhalten? „Ich bin ehrlich zu meinen Soldaten, spreche Fehler an, sodass sie daraus lernen und sie nicht wiederholen. Davon hängt ihr Leben ab und das ihrer Kameraden. Das ist sinnvoller als Motivationsreden – sie motivieren sich dadurch selbst“, sagt Musikant.
An ein Ende des Krieges gegen die russische Armee denkt keiner der Soldaten, Nachrichten verfolgen sie nicht: „Aus meiner Sicht wird es so rasch keinen Frieden geben“, sagt Hektor. „Die Russen werden angreifen, wir werden verteidigen. Manchmal umgekehrt. Und es wird so weitergehen.“
Für Badger wird es in einigen Tagen für wenige Tage aufhören: Er bekommt Fronturlaub und wird seine Frau sehen – zum dritten Mal in einem Jahr.
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