Zwischen Gräbern und Gärten: Charkiw im vierten Kriegsjahr

Wladimir steckt die Schaufel in die lockere Erde, setzt sich, öffnet seine Softdrink-Dose. Die Sonne brennt auf den aufgeschütteten Hügel zu seinen Füßen, dahinter wehen blau-gelbe Flaggen – zu Tausenden. Eine jede für einen gefallenen ukrainischen Soldaten. „Jeden Tag kommen zwei bis sechs neue dazu“, sagt der 77-Jährige mit einer Trockenheit, die wohl nur ein Totengräber aufbringen kann.
2022 selbst gekämpft
Er ist die trauernden Familien gewohnt, die tagtäglich mehr werden. Die Wodka, Stofftiere, Bücher zu den Gräbern ihrer Liebsten bringen. „Geboren: 2003, gestorben: 2025“, steht auf dem frischen Grabstein unweit von Wladimir. Eine Frau kommt, legt frische Blumen nieder. Bricht in Tränen aus. Legt die gleichen Blumen auf das Grab daneben. „Meine Söhne!“, schluchzt sie.
„Sie sind Helden“, sagt Wladimir und holt drei Fotos hervor. „2022“, sagt er, „habe ich auch noch einmal die Uniform angezogen, habe geholfen, die Stadt zu verteidigen. Doch ich bin einfach zu alt.“ Auf einem der Fotos ist er in Uniform mit drei Kameraden zu sehen, die alle gute 30 Jahre jünger sind als er. „Tot, tot, tot“, sagt er, als er auf sie zeigt. „Sie sind dafür gestorben, dass wir hier leben können.“
Außerhalb des Friedhofs scheint es auf den ersten Blick unmöglich zu sein, dass nur 23 Kilometer nördlich russische Truppen stehen, 90 Kilometer östlich die Russen den Oskil-Fluss überquert haben. Fast jede Nacht schlagen russische Drohnen oder Raketen in der Stadt ein – und regelmäßig ertönt der Luftalarm.
„Sauberste Stadt“
Doch die Menschen haben sich daran gewöhnt. In den großen Parks Charkiws sonnen sich Familien, Jugendliche scherzen und trinken miteinander – und nahezu überall kümmern sich Straßenkehrer um ein perfektes Stadtbild.

Viele von ihnen arbeiteten vor Kriegsbeginn in der Industrie, die nun zu großen Teilen stillsteht. Die Stadt bezahlt sie dafür, dass sie mithelfen, Schäden auszubessern, die die russischen Drohnen regelmäßig anrichten. „Wir sind die sauberste Stadt im Land“, sagt Olga, eine Verkäuferin auf einem belebten Markt nahe des Arbeiterviertels Saltiwka.
Dort bombardierte die russische Artillerie besonders intensiv. In den massiven Plattenbauten klaffen nach wie vor massive Löcher. Doch einige Fenster sind bereits neu, verdrängen langsam, aber sicher die Holzplatten, die anstelle der zerborstenen Fenster eingesetzt worden waren.
Aufbauarbeiten
Aus dem Inneren der Gebäude ist Hämmern, Schremmen, Bohren zu hören. Zwei Arbeiter bessern eine Fassade aus, verpassen ihr sogar eine neue Dämmung. „Es geht langsam voran, aber es geht“, sagt einer der Bauarbeiter. Zwei Blocks in Saltiwka hat die Stadt bereits völlig renoviert, zahlreiche weitere fehlen noch. Und dennoch leben auch in den zu großen Teilen ausgebombten Wohnblocks nach wie vor Menschen. „Meine Eltern weigern sich, zu gehen“, sagt Olga.
Regelmäßig müsse ihr Mann sie versorgen, Leitungen ausbessern, Stromgeneratoren reparieren. „Aber da sind sie einfach stur.“ Wie sie die Zukunft ihres Landes sehe? „Ich will mir keine großen Gedanken machen. Heute ist ein schöner Tag und in der Nacht konnte ich einigermaßen gut schlafen. Das ist doch schon einmal nicht so schlecht“, lacht sie.
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