"Wenn Putin es ernst meinen würde, hätten wir sofort Waffenstillstand"

"Wenn Putin es ernst meinen würde, hätten wir sofort Waffenstillstand"
Charkiw liegt knapp 20 Kilometer von der Front entfernt, kein Tag vergeht ohne Beschuss. Ihor Terechow ist Bürgermeister der 1,4-Millionen-Stadt - ein Gespräch über die konstante Bedrohung, Zwangsrekrutierungen und Putins Absichten.

Die ostukrainische Millionenstadt Charkiw steht seit Beginn des russischen Angriffskriegs unter ständigem Beschuss, ist etwa 30 Kilometer weit von der russischen Grenze entfernt. Trotz der Bedrohung setzen Bürgermeister Ihor Terechow und die Bevölkerung, die mittlerweile zahlreich nach Charkiw zurückgekehrt ist, auf Resilienz. Im KURIER-Interview spricht Terechow über die aktuelle Sicherheitslage, die Herausforderungen beim Wiederaufbau und seine Hoffnung auf einen gerechten Frieden.

Herr Terechow, wie würden Sie die aktuelle Lage in Charkiw in Bezug auf Sicherheit und die Stimmung der Menschen beschreiben?

Die Situation ist sehr schwierig. Fast täglich erleben wir Beschuss. Allein im April mussten wir 125 Angriffe registrieren. Am 24. April kam es zu einem massiven Angriff mit zehn Raketen und vierzehn Drohnen gleichzeitig. Es gab große Zerstörungen an Wohnhäusern, Industrieanlagen, Schulen und Krankenhäusern. Das Leben der Menschen ist stark betroffen – es gibt viele Verletzte und Tote.

Wie reagieren Sie persönlich auf Luftalarme, wenn Sie im Freien unterwegs sind?

Sobald Angriffe stattfinden, fahren wir sofort zu den betroffenen Orten, um zu helfen. Die zuständigen Dienste sind ebenfalls schnell vor Ort.

Ich frage, weil viele Bürger Charkiws bei Luftalarm nicht reagieren, sich daran gewöhnt haben – was nach mehr als drei Jahren Krieg durchaus verständlich ist. 

Wir haben inzwischen ein differenziertes Warnsystem eingeführt, das unterscheidet, ob die Bedrohung für die Region oder die Stadt Charkiw besteht. Dennoch müssen die Menschen bei Alarm unbedingt reagieren.

Im vergangenen Jahr gab es massive Probleme mit der Stromversorgung. Hat sich die Lage verbessert?

Ja, derzeit ist die Energieversorgung stabil. Allerdings ist sie nicht garantiert – bei weiteren Angriffen auf Infrastrukturobjekte könnte sich das schnell ändern. Solange der Krieg andauert, bleibt die Lage angespannt.

Das Heizkraftwerk TPP-5 war vergangenes Jahr noch stark beschädigt. Mittlerweile scheint es wieder in Betrieb zu sein. Wie war das möglich? 

Teilweise. Das Heizkraftwerk hat schwere Schäden erlitten und kann heute nicht mit voller Kapazität arbeiten. Die Situation dort bleibt schwierig.

Was halten Sie von Wladimir Putins Vorschlag, von 8. bis 11. Mai eine Feuerpause einzulegen?

Unsere Regierung hat darauf geantwortet, dass wir jederzeit bereit sind, das Feuer einzustellen – nicht nur an bestimmten Tagen. Wenn es ernst gemeint wäre, könnte man sofort einen Waffenstillstand vereinbaren.

Es gibt Berichte über Zwangsrekrutierungen, unter anderem Vorfälle in Charkiw. Einige Bürger sind darüber sehr erbost. Was ist Ihre Meinung dazu?

Wir müssen ehrlich sein: Es herrscht Krieg. In Kriegszeiten müssen wir gemeinsam unser Land verteidigen. Das ist die Realität.

Die Stadt wird trotz des Krieges weiterhin wiederaufgebaut. Manche Menschen sind dankbar, andere wollen, dass es schneller geschieht, wieder andere haben Angst, dass alles erneut zerstört werden könnte. Was sagen Sie Letzteren?

Ich kenne niemanden, der sagen würde, dass der Wiederaufbau nicht dringend notwendig ist. Natürlich gibt es Ängste vor weiteren Angriffen. Aber ohne Wiederaufbau würden die Menschen die Stadt verlassen. Der Wiederaufbau ist entscheidend, damit die Menschen zurückkehren und bleiben können.

Welche Prioritäten setzen Sie aktuell beim Wiederaufbau und der Versorgung?

Im Moment liegt der Schwerpunkt auf Fenstern. Jeder Beschuss zerstört tausende Fenster. Beim letzten Angriff waren es über 5.000. Fenster sind essenziell, damit die Menschen in ihren Wohnungen bleiben und würdig leben können.

Wie sehen Ihre persönlichen Perspektiven für Charkiw und die Ukraine aus?

Ich wünsche mir einen gerechten Frieden – und zwar nicht nur für ein oder zwei Jahre, sondern für Jahrzehnte. Charkiw ist und bleibt eine ukrainische Stadt. Wir arbeiten derzeit an einem umfassenden Masterplan für den Wiederaufbau, entwickelt unter Leitung der Norman-Foster-Stiftung und unterstützt von Experten der Universitäten Oxford und Harvard. Unser Ziel ist es, Charkiw zu einer idealen Stadt der Zukunft zu machen.

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