Ukraine-Krise: Wer ist verantwortlich?
Ist Russland ein Aggressor, der droht, einen souveränen Nachbarstaat zu überrollen? Oder haben des Westen und die NATO bei ihrer Erweiterung nach Osten Moskaus rote Linien überschritten? Kann Russland Anspruch auf eine politische Einflusssphäre in seiner Nachbarschaft erheben, oder muss auch die Ukraine ungehindert den Weg nach Westen und in die NATO antreten können. Ein heikles Thema mit einer internationalen Krise im Hintergrund.
Der KURIER bat zwei Experten mit ganz unterschiedlichen Positionen um Antworten auf die zentralen Fragen: Den Historiker und erfahrenen Russland-Experten Stefan Karner und den langjährigen Europa-Politiker und Präsidenten der sozialdemokratischen Fraktion im Europaparlament, Hannes Swoboda.
1. Frage
Was sehen Sie als den Hauptgrund für den Aufmarsch der russischen Armee an den Grenzen der Ukraine? Wo sehen Sie das Versagen der internationalen Politik, dass es so weit kommen konnte?
Karner: Mühsam aufgebautes Vertrauen zwischen Ost und West ist verspielt. Daran ist nicht nur eine Seite schuldig. In dieser Situation geht es Moskau v. a. um Sicherheit in seinem europäischen Vorfeld. Als Joe Biden 2009 in Kiew erklärte, die Einflusszone der USA und der NATO könnte bis an die Grenze Russlands reichen, war für den Kreml sicherheitspolitisch und im historischen Selbstverständnis eine rote Linie überschritten. Danach schloss Kiew 2012 ein Abkommen mit der EU. Viele Russen spürten und sagten: Die Ukraine, „die Wiege Russlands“, hat sich gegen uns und für den Westen entschieden.
Seit der Besetzung der Krim 2014 hat Kiew, auch mit westlicher Hilfe, stark aufgerüstet. Britische und US-Kampfverbände stehen im Land oder an der Grenze zur Ukraine. Im Kriegsfall ist Widerstand, bis zu einem Guerillakrieg, zu erwarten, mit Tausenden Toten, einer Flüchtlingswelle. Verlierer werden beide Seiten und Europa sein. Die Ignoranz des Westens gegenüber Putins frühen Signalen zur Kooperation ist lang: der Handelskorridor vom Atlantik bis zum Pazifik (jetzt baut China seine „Seidenstraße“) oder der verzögerte Beitritt Russlands zur WTO.
Swoboda: Russland versucht unter Präsident Putin wieder mehr internationalen Einfluss zu gewinnen. Russland ist derzeit durch hohe finanzielle Reserven gestärkt. Anderseits hat die Zustimmung zu Putin in der Bevölkerung abgenommen. Beides gab ihm Anlass und Mut, den „Westen“ herauszufordern. Putin möchte nicht die Sowjetunion wieder herstellen. Aber eine von Russland stark beherrschte Nachbarschaft ist sicherlich sein Ziel. Leider schließt Putin hier an die imperiale Geschichte Russlands an.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat der Westen versäumt, Ideen für eine gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur zu entwickeln. Die Versuchung, die Schwäche Russlands voll auszukosten war zu groß. Hinzu kommt, dass vor allem jene Staaten, die unter der sowjetischen Dominanz besonders gelitten haben, wie die baltischen Staaten, Polen und Rumänien rasch eine Sicherheitsgarantie durch die NATO-Mitgliedschaft haben wollten. Russland hat unter Putin nicht gelernt, wie man politische Ziele durch Kooperation erreicht.
2. Frage
Hat Russland das Recht, Einfluss auf die Ausrichtung der Ukraine zu nehmen?
Karner: Formal natürlich nicht, Ukraine ist ein souveräner Staat. Aber es steht das mündliche Versprechen aus 1990/91 im Raum, es werde keine NATO-Osterweiterung über die DDR hinaus geben. Russland argumentiert mit der „ungeteilten Sicherheit“ als Prinzip der OSZE, die nicht zulasten anderer geht. Daher die Forderung: keine NATO-Erweiterung mehr.
Swoboda: Russland hat auch als großer Staat kein Recht, seine Nachbarn unter Druck zu setzen. So wie im privaten Recht, besteht Gewalt nicht nur im militärischen Einmarsch und in verschiedenen hybriden Kriegsführungen, sondern auch in Drohgebärden wie in massiven Militärmanövern an der Grenze zu einem Nachbarn. Die – bedauerliche – Tatsache, dass auch andere Staaten, inklusive den USA, eine bedrohliche Nachbarschaftspolitik betreiben und für sich eine Einflusszone einfordern, rechtfertigt nicht das russische Verhalten. Unrecht bleibt Unrecht, von wem auch immer ausgeübt. Besonders Russland, das immer auf die nationale Souveränität pocht, sollte sie bei allen Staaten anerkennen. Aber jedenfalls im Falle der Ukraine und Georgiens verletzt Russland die eigenen Grundsätze.
3. Frage
Betreibt Russland aggressive Außenpolitik?
Karner: Russland betreibt Großmachtpolitik im postsowjetischen Raum, wie wir sie von anderen Großmächten kennen. In den umstrittenen Gebieten Georgiens oder der Moldau leben überwiegend ethnische Russen, teils mit russischen Pässen, worauf sich Moskau beruft.
Swoboda: Russland ist sicherlich nicht das einzige Land, das in Teilen eine aggressive Außenpolitik betreibt. Aber gerade bezüglich der Ukraine, sowie gegenüber Georgien sehen wir eine mit Drohungen versehene Außenpolitik. Russland unter Putin versteht nicht, dass man Freunde durch Angebote und nicht durch Drohungen und die Förderung von separatistischen Bewegungen gewinnt.
4. Frage
Ist die NATO eine Bedrohung für Russland? Russland eine für NATO-Staaten?
Karner: Der Kalte Krieg wurde nicht heiß, weil man Einflusssphären beiderseitig akzeptierte. Die haben sich heute stark nach Osten, teilweise an die russische Grenze vorgeschoben. Modernste Waffensysteme stehen im Baltikum, in Tschechien. Sie erzeugen kein Vertrauen. Nun fürchten die Russen, dass NATO-Atomwaffen in der Ukraine stationiert werden. Die angedrohten Sanktionen des Westens werden uns stärker treffen als Russland: wegen seiner riesigen Goldreserven, der Leidensfähigkeit der Russen sowie der Abwehr, die Sanktionen von außen immer hervorrufen (man denke an Österreich). Auch Gewinner lassen sich benennen: die US- und russische Öl- und Gasindustrie. Das Schellgas der Amerikaner wird nach Europa kommen, weil Zentraleuropa das russische Gas nicht kompensieren kann.
Swoboda: Russland ist keine direkte Bedrohung für die NATO und umgekehrt. Wahrscheinlich übertreiben beide Seiten die Bedrohung. Grotesk ist jedenfalls das Argument, die Ukraine bedrohe Russland. Das Bild, das staatsnahe Medien von der Ukraine zeichnen, ist sehr widersprüchlich. Einerseits zählt die Ukraine zur russischen Welt, anderseits wird sie von faschistischen Kräften beherrscht.
5. Frage
Wie sollte eine zukünftige Sicherheits-Strategie für Europa aussehen?
Karner: Der Konflikt ist ein europäischer. Die EU kann Friedenspolitik nur betreiben, weil es die NATO gibt, sie ist ohne militärischen Arm Zuschauer. Zu früh hat sie sich auf die US-Seite geschlagen. Russland kann in Asien die chinesische Karte ziehen. China berücksichtigt Russlands Bedürfnis nach Status, baut Wirtschaftsprojekte (noch) nicht gegen Russland. Zwischen Russland und der Ukraine gibt es noch kulturelle, wissenschaftliche, wirtschaftliche Brücken, Millionen haben Verwandte hie und drüben. 70 Prozent der Russen halten die Ukraine für einen „befreundeten, nachbarschaftlichen Bruderstaat“. Erste, Signale für Verhandlungen, neue Allianzen, so zwischen London, Warschau und Kiew, werden sichtbar. Vertrauen wieder herzustellen ist das Wichtigste, Deeskalation und Rüstungskontrolle können folgen. Ebenso etwa ein Aussetzen eines NATO-Beitritts der Ukraine für 20–30 Jahre, Sicherheitsgarantien für beide Seiten oder ein autonomer Status für die ostukrainischen Gebiete innerhalb der Ukraine. Wie Voltaire sagte, auf Bajonetten kann man nicht lange sitzen.
Swoboda: Europa braucht eine neue und nachhaltigere Sicherheitsarchitektur. Sicherheit in Europa kann nicht ohne die USA, aber letztendlich auch nicht ohne Russland erfolgen. Da können wir nicht auf ein demokratisches und westliches Russland warten. Es muss auch möglich sein, mit dem heutigen Russland zu einer Lösung zu kommen. Mit einem grundsätzlich kooperativen Russland wäre es machbar, dass auch die Ukraine – und Georgien – entscheiden, neutral zu bleiben. Vor allem dann, wenn sie von der NATO und (!) von Russland Sicherheitsgarantien bekommen. Gerade Russland und Ukraine sollten bei voller Wahrung der Eigenständigkeit neugestaltete Beziehungen aufnehmen. Die Ukraine sollte sich bemühen, eine nationale Geschlossenheit nicht nur in Abgrenzung zu Russland zu erreichen und dringend notwendige Reformen durchzuführen. Russland müsste aufhören, von sich aus zu definieren und zu bestimmen, wer zur russischen Welt gehört. Es sollte sich der direkten und indirekten Einmischung in Nachbarstaaten enthalten.
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