Wir wussten, irgendwann musste es passieren. Zwei volle Tage hatten wir bereits ohne Luftalarm in der Ukraine verbracht. Am dritten Tag um 6 Uhr Früh war es dann so weit. „Air Raid Alert“, meldete die App, „proceed to the nearest shelter“.
Wenig später bestätigte unser Sicherheitsberater Volodymyr per WhatsApp die Ernsthaftigkeit der Situation. „Good morning. Missile attack. You should proceed to the next shelter“, so seine knappe wie unmissverständliche Nachricht.
Also raus aus dem Bett, warme Kleidung anziehen, den – im besten Fall bereitstehenden – Rucksack mit den wichtigsten Dingen schnappen und auf. Mindestens 30 Minuten, so wurde uns gesagt, beträgt die Vorwarnzeit im Fall eines russischen Raketenangriffs hier in Iwano-Frankiwsk, im Westen des Landes. Aber wer will sich darauf schon verlassen, wenn Sirenen heulen?
Unvermeidbar oder unverständlich?
Zehn Minuten später, im Schutzraum, dem Keller eines Theaters nebenan, changiert die Stimmung zwischen aufgeregt und irritiert. Die sechs Österreicherinnen und Österreicher und drei Ukrainerinnen unserer Reisegesellschaft haben sich hier eingefunden. Dazu noch zwei vermeintlich ukrainische Männer, die gelangweilt auf ihren Smartphones herumtippen, ansonsten ist es leer.
Auch die Damen an der Rezeption wirkten eher irritiert, dass wir wirklich in den Schutzraum gehen wollen und nicht einfach weiterschlafen, wie es offensichtlich die meisten Gäste des Hotels tun.
Ist man den Krieg hier schon so gewohnt, dass man sein Leben aus Bequemlichkeit aufs Spiel setzt?
Vermutlich geht es nicht anders. Selbst hier, weit weg von der Front, gibt es im Schnitt alle zwei Tage Luftalarm – der letzte Einschlag datiert aber vom 13. März 2022. Und auch sonst fühlt man sich hier wie in einer Zwischenwelt. Krieg, aber nicht richtig. Gefahr, aber nicht greifbar. Gewohntes Leben, aber doch nicht.
"Es gibt keine Sicherheit"
Gedenken an gefallene Soldaten sind in den Orten so allgegenwärtig wie Checkpoints auf den Landstraßen. Abgesehen davon deutet wenig darauf hin, dass man sich in einem Land im Kriegszustand befindet. Dennoch: „Es gibt keine Sicherheit“, sagt Ksenia im Bunker. „Es gibt nur relative Sicherheit.“
Jeder entscheidet für sich
Gleichzeitig geht das Leben weiter, muss man funktionieren, möchte mehr als nur das. Leben eben. Also arrangiert man sich mit der latenten Gefahr. Man spürt deutlich, Ksenia und ihre beiden Kolleginnen wären nicht aufgestanden, wären ihre österreichischen Gäste nicht hier.
„Du hast nur zwei Möglichkeiten: Entweder du stirbst oder du lebst weiter", hat Yevgenia am Tag zuvor gesagt. An diesem Ort, zu dieser Zeit, bekommt man zumindest einen winzigen Einblick darin, was das eigentlich bedeutet: Leben im Krieg.
Ob wir den Bunker wohl schon wieder verlassen dürfen? Immerhin sitzen wir hier seit 90 Minuten, es wird langsam kalt, die ersten werden hungrig, andere müssen auf die Toilette. „Das“, sagt Ksenia, „ist eine persönliche Entscheidung, die wirklich jeder für sich treffen muss“.
Draußen ist nichts zu merken
Nach zwei Stunden beschließen wir, den Bunker zu verlassen. Die beiden Männer sind zu diesem Zeitpunkt schon seit Längerem weg. Draußen geht das Leben seinen gewohnten Gang. Die Busse sind so voll wie die Straßen und der Frühstücksraum des Hotels, vor dem bereits unsere beiden Fahrer warten.
Eigentlich sollten wir uns gleich auf den Weg machen. In die Kleinstadt Drogobych, um ein Familienzentrum von SOS-Kinderdorf zu besuchen. Während wir vorher noch den ersehnten Kaffee trinken und auch die offizielle Entwarnung einlangt, langen auch die ersten Nachrichten über den großflächigen russischen Angriff ein.
Neben Treffern in Kiew und Mykolajiw ist eine Rakete auch im Westen des Landes eingeschlagen. In Drogobych. Wie gesagt: Es gibt keine Sicherheit.
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