Vertriebene Familien in der Ukraine: Nach der Flucht ins Nirgendwo
„Am Anfang haben wir“, sagt Inna und schluckt, „die Ernsthaftigkeit der Lage unterschätzt.“ Der Anfang, das waren die ersten Tage des russischen Überfalls auf die Ukraine vor knapp zwei Jahren. Der Ort: Mariupol, die Hafenstadt, die von Russland systematisch in Schutt und Asche gelegt wurde. Zehntausende Zivilisten starben bzw. wurden nach Russland deportiert. Inna, ihr Mann und ihre Tochter, so muss man es wohl sagen, hatten Glück.
Und so sitzt die zierliche Frau heute in einem kleinen, hellen Besprechungsraum des Familienzentrums von SOS-Kinderdorf in Iwano-Frankiwsk und erzählt ihre Geschichte, während ihre Stimme immer wieder bricht. Sie erzählt vom Zusammenbruch der Wasser- und Gasversorgung, vom Schmelzen von Schnee, um etwas trinken zu können, von dauernden Granateneinschlägen, während sie die fünfjährige Tochter mit ihrem eigenen Körper schützt.
14 Millionen haben ihre Heimat verlassen
Als diese nach drei Wochen der Belagerung wegen einer verschleppten Krankheit und Stress Asthma entwickelt, beschließt die Familie, die Flucht zu wagen – und schafft es tatsächlich aus der Stadt, während zahllose andere beim Versuch sterben. Eine brutale Geschichte, und doch nur eine von vielen.
14 Millionen Menschen wurden seit dem Überfall vertrieben, mehr als die Hälfte blieb im Land. Vor allem in den verhältnismäßig sicheren Städten im Westen landen in den ersten Monaten Zehntausende.
Viele von ihnen Familien mit Kindern, die nur mit dem Allernötigsten aufbrachen und hier, in Iwano-Frankiwsk oder in Lwiw, von SOS-Kinderdorf aufgefangen wurden. Rund einer halben Million Menschen hat die Organisation in ihren landesweit knapp 80 Einrichtungen seit dem Überfall geholfen. Das Wie hat sich aber mit der Zeit verändert, erklärt Geschäftsführer Serhii Lukashov.
Lange Zeit ging es um Nothilfe: die Versorgung mit Essen, Kleidung und Hygieneprodukten, das Vermitteln von Wohnraum sowie psychologische Akuthilfe. Jetzt gehe man langsam zu nachhaltigerer Hilfe über.
Allen die Hilfe, die sie benötigen
Das bedeutet einerseits, das Erlebte zu verarbeiten, dadurch auch die Familie in sich zu stärken und somit in der Krise zusammenzuhalten. Wie genau, das wird von den multidisziplinären Teams im Einzelfall festgelegt.
Serhii Lukashov, Geschäftsführer von SOS-Kinderdorf Ukraine
Sozialarbeiterin Maryna Bulbuk
Die Arbeit beginnt mit dem Erstgespräch, das Sozialarbeiterin Maryna Bulbuk und ihre Kolleginnen führen. „Besonders Kinder erkennen oft gar nicht, dass sie ein Problem haben und bitten daher nicht um Hilfe“, erklärt sie. Nach der Bestandsaufnahme übernehmen, je nach individuellem Bedarf, Psychologinnen und Therapeutinnen, wobei insbesondere kreative Zugänge wie Maltherapie sichtbare Erfolge bringen.
Nachhaltige Hilfe bedeutet andererseits aber auch, das Ankommen in der neuen Umgebung, die Integration mit anderen Vertriebenen und der lokalen Bevölkerung zu fördern. Für die Kinder ist der Austausch mit Gleichaltrigen doppelt wichtig, um ihre Kommunikationsfertigkeiten nicht zu verlieren, sagt Bulbuk – auch dabei helfen Gruppenaktivitäten wie Kunsttherapie.
Viele flüchten ohne Ziel
In Lwiw und Iwano-Frankiwsk liegt der Fokus bereits auf diesen nachhaltigen Angeboten. Und wie wichtig sie sind, bestätigt Nataliia Dmytrieva. Die 51-Jährige ist mit drei Pflegekindern aus Saporischschja geflüchtet. Mit Hunderten anderen bestieg die Familie einen Zug ohne konkretes Ziel, Hauptsache weg. „Wir sind praktisch ins Nirgendwo gefahren“, sagt sie.
Umso wichtiger war die Hilfe von SOS-Kinderdorf, angefangen von Unterwäsche für die Kinder bis hin zur Vernetzung mit Fremden, die heute Freunde sind.
Mit dem Interesse erlahmen die Spenden
Möglich ist all das vor allem dank internationaler Spenden. Auch die österreichische Schwesterorganisation hat bereits neun Millionen Euro gesammelt – „die größte Nothilfe, die wir jemals organisiert haben“, sagt Geschäftsführerin Nora Deinhammer.
Wie immer bei lange andauernden Krisen lässt die Spendenbereitschaft aber mit der Zeit nach. Das sei aktuell die große Herausforderung, denn „wenn wir jetzt bei der Stabilisierung der geflohenen Familien nicht dranbleiben, wäre die Nothilfe verpufft“.
Diejenigen, die von dieser weiterführenden Unterstützung bereits profitiert haben, würden das wohl unterschreiben. So wie Nataliia: „Wir sind sehr dankbar, dass wir wieder eine normale Familie mit einem normalen Leben sind“, sagt sie. Ihre Pflegekinder wollen bereits weitere Geschwister aufnehmen, denn sie wüssten ja, wie es ist, keine Familie zu haben, erzählt sie nicht ohne Mutterstolz.
Und Inna hat, auch aufgrund der Unterstützung mittlerweile mit der 1.200 Kilometer weiter östlich liegenden, alten Heimat abgeschlossen. „Ich will, dass meine Tochter hier aufwächst“, sagt sie. „Hier haben wir nur gute Menschen getroffen. Mariupol wird außerdem immer mit dem Krieg verbunden bleiben.“
Hinweis: Die Reise erfolgte auf Einladung von SOS-Kinderdorf. Projektinformation unter sos-kinderdorf.at/ukraine. Spendenkonto: IBAN: AT62 1600 0001 0117 3240, BIC: BTVAAT22, Kennwort: Ukraine.
Kommentare