SOS-Kinderdorf-Chefin: "Bei der Ukrainehilfe braucht es einen langen Atem"
Nora Deinhammer (56) bildet mit Annemarie Schlack und Christian Moser die Geschäftsführung von SOS-Kinderdorf Österreich. Sie kam 2012 als Bereichsleiterin für Kommunikation und Mittelbeschaffung zu der Hilfsorganisation und stieg 2019 in die oberste Führungsebene auf. Davor war sie unter anderem beim Telekomanbieter A1 in leitender Funktion tätig.
Mit dem KURIER sprach Deinhammer angesichts eines Besuchs bei ihren Kolleginnen und Kollegen in der Ukraine über Unterschiede in der Arbeit zwischen den beiden Ländern, über nachhaltige Hilfe und über die Entwicklung des Spendenaufkommens.
KURIER: Frau Deinhammer, welche Eindrücke haben Sie in der Ukraine gewonnen?
Nora Deinhammer: Vielfältigste. Vor allem haben wir die Vielfalt des Angebots für die unterschiedlichen Bedürfnisse von Kindern und deren Familien in den unterschiedlichsten Situationen kennengelernt. Von der Nothilfe, der Versorgung mit dem Notwendigsten, über psychologische Hilfe, das Auftreiben von Unterkünften aber auch von Pflegefamilien, bis hin zur Herausforderung jetzt: der Stabilisierung der geflüchteten Familien in ihrer neuen Umgebung und der Unterstützung beim Anschluss an die Gemeinschaft.
Was wird am meisten gebraucht, woran fehlt es besonders?
Momentan vor allem psychologische Hilfe, sowohl für die Kinder als auch deren Eltern bzw. Pflegefamilien. Denn was SOS Ukraine hervorragend macht, ist, das gesamte Familiensystem zu unterstützen.
Welchen Stellenwert hat die Ukraine-Hilfe für SOS Österreich? Es gibt ja auch hier genug zu tun, das Geld kostet.
Die Invasion ist ja über uns alle unerwartet hereingebrochen. Und da, denke ich, haben wir alle alles Mögliche getan, um schnell zu helfen - in der Ukraine wie auch in Polen und in Österreich. Dabei haben uns die Spenderinnen und Spender in Österreich großartig und schnell unterstützt, denn die Hilfe in der Ukraine können wir nur mit Spendengeldern leisten. Nur weil die Spenderinnen und Spender so schnell so viel Geld locker gemacht haben, nämlich neun Millionen, war die größte Nothilfe, die wir jemals organisiert haben, möglich. Und das hat eine große Wichtigkeit für uns. Wir haben alle miterlebt, wie die Ukrainerinnen und Ukrainer vor zwei Jahren mit nichts als ihrer Kleidung am Leib in Österreich angekommen sind. Und daher war es uns ein Riesenbedürfnis, unseren Beitrag zu leisten, sowohl in Österreich als auch in der Ukraine.
Wie hat sich das Spendenaufkommen für die Ukrainehilfe entwickelt?
Es war sehr schnell die Bereitschaft da, zu unterstützen. Wie es bei vielen Ereignissen ist, ebbt dann mit der Zeit die Aufmerksamkeit und damit die Spendenbereitschaft ab, weil es dann nicht mehr so die Akuthilfe benötigt. Die wäre aber verpufft, wenn wir nicht bei der Stabilisierung, der Integration, dem Fuß fassen der geflohenen Familien dranbleiben. Da braucht es jetzt einen langen Atem, denn es ist schwieriger, dafür Spenden zu lukrieren. Diese Ermüdungserscheinungen kennen wir auch von anderen Brennpunkten auf der Welt, irgendwann kann man das gar nicht mehr hören. Aber die Not ist deshalb nicht geringer.
Welche Angebote hat SOS-Kinderdorf für Ukrainerinnen und Ukrainer in Österreich?
Auch hier haben wir diesen Wandel von der Nothilfe zur nachhaltigen Hilfe durchgemacht. Als die Geflüchteten vor zwei Jahren am Wiener Hauptbahnhof angekommen sind, haben wir mit Unterstützung von Unternehmenspartnern und der Caritas sehr schnell eine sogenannte kinderfreundliche Zone geschaffen, wo die Familien einmal zur Ruhe kommen und Kinder spielen und einfach Kinder sein konnten.
Dann haben wir Kinder dauerhaft aufgenommen. Die meisten in Tirol, da haben wir zwei Gruppen mit je 50 Kindern und zwei Betreuerinnen aus ukrainischen Großheimen aufgenommen. Weitere 100 bis 150 Kinder – das schwankt – haben wir verstreut in unseren Kinderdörfern und Wohngruppen aufgenommen, wo sie gemeinsam mit den österreichischen Kindern leben.
Und vor allem im Osten leisten wir Community Building, vernetzen also ukrainische mit österreichischen Familien, um das Andocken zu erleichtern. Da wird etwa gemeinsam gebastelt oder auch gekocht. Und in dieser Leichtigkeit finden dann auch unterschiedliche Beratungen statt.
Wie gut klappt das?
Das klappt unglaublich gut. Es ist total schön zu sehen, was sich da entwickelt und wie groß die Bereitschaft ist. Kinder tun sich sowieso oft leicht, miteinander in Kontakt zu treten. Aber auch die Mütter – es sind ja vor allem Mütter mit Kindern gekommen - nutzen das sehr stark, um sich miteinander auszutauschen. Das erleichtert schon Vieles, wenn man sieht: Nicht nur ich habe ein bestimmtes Problem, sondern auch andere. Geteiltes Leid ist halbes Leid.
Abgesehen von der Nothilfe: Ist das Angebot, sind die Schwerpunkte in Österreich mit denen in der Ukraine vergleichbar?
Was uns verbindet und was ja auch der Kern unserer Arbeit ist, ist, dass die Bedürfnisse der Kinder im Mittelpunkt stehen. Auch das Konzept des familienähnlichen Aufwachsens verbindet uns. Das kann aber in unterschiedlichen Ländern unterschiedlich aussehen.
Was bedeutet das konkret?
Anders als in Österreich fußt das System in der Ukraine sehr stark auf dem Pflegeelternsystem. Und SOS Ukraine unterstützt die Pflegeeltern mit Angeboten wie psychologischer Hilfe, Traumabewältigung oder logopädischer Unterstützung. Man muss bedenken, SOS Ukraine ist erst 2003 entstanden. Daher haben sie schon das moderne, gut gelernte und gewachsene Pflegeelternsystem genützt, um darauf aufzubauen. SOS Österreich ist vor 75 Jahren als familienähnliche Unterbringungsmöglichkeit für verlassene Kinder entstanden. Wobei sich natürlich auch das System in Österreich weiterentwickelt hat und jetzt ganz anders aussieht als damals.
Wie?
Es muss nicht immer ein SOS-Kinderdorf sein, in dem die Kinder aufwachsen. Stattdessen unterstützen wir Familien in Krisensituationen mit mobilen Teams in deren Heim, damit sie nicht auseinanderbrechen und die Kinder dort ein liebevolles Zuhause haben. Das ist dieses familienstärkende Arbeiten, das in Österreich über die Jahrzehnte auch sehr stark gewachsen ist. Teilweise ziehen Familien aber auch für einige Zeit in ein Kinderdorf oder in eine von SOS-Kinderdorf finanzierte Wohnung, um dort Stabilisierung zu erleben und nach einiger Zeit wieder auszuziehen und als selbstständige Familie wieder ein gutes Familienleben zu führen.
Konnten Sie aus der Ukraine etwas für Ihre Arbeit in Österreich mitnehmen?
Was mich sehr beeindruckt hat und wovon wir sicher lernen können, ist die unglaublich hohe Flexibilität und schnelle Anpassung der Unterstützungsarten und -formen an das, was gerade gebraucht wird.
Hinweis: Das Interview wurde auf einer Ukraine-Reise auf Einladung von SOS-Kinderdorf geführt. Projektinformation unter sos-kinderdorf.at/ukraine. Spendenkonto: IBAN: AT62 1600 0001 0117 3240, BIC: BTVAAT22, Kennwort: Ukraine.
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