Im Westen des Landes werden Opfer des Krieges während ihrer Rehabilitation begleitet. Eine von ihnen ist die 10-jährige Myroslava. Das ist ihre Geschichte.
Als Maryna die gewaltige Explosion hört, hat sie gleich ein mulmiges Gefühl. Es ist der 14. Jänner 2023, ein Samstag, und die 32-Jährige ist in der Arbeit, einem Supermarkt in der ukrainischen Millionenmetropole Dnipro. Sofort rennt sie zum Fenster. Der Blick hinaus lässt ihr Gefühl in blanke Angst umschlagen. In Richtung des Wohnblocks, in dem die Alleinerzieherin mit ihrer Mutter und ihrer neunjährigen Tochter lebt, hängt eine dichte, schwarze Rauchwolke in der Winterluft.
Zehn Minuten braucht sie zu Fuß bis zu dem Gebäude – oder was davon noch übrig ist. Zehn Minuten, bis ihre schlimmsten Befürchtungen wahr werden. Ein russischer KH-22-Marschflugkörper hat den zentralen Teil des neunstöckigen Gebäudes an den Ufern des Dnipro zum Einsturz gebracht. Den Teil, in dem Marynas Wohnung liegt. „Alles war zerstört“, erzählt sie.
Aus den Trümmern gerettet
Zwischen schreienden und weinenden Menschen, Verletzten wie Angehörigen, sucht sie ihre Familie und findet sie nicht. Als sie endlich ihre Mutter am Telefon erreicht, steht diese unter Schock. Nur so viel versteht Maryna: Ihre Tochter, Myroslava, ist im Krankenhaus.
Sofort fährt sie hin und sucht unter den Opfern nach dem Mädchen. „Ich habe sie sogar gesehen, aber ich habe sie nicht erkannt“, sagt sie und beginnt zu weinen. „Niemand konnte mir sagen, ob sie überleben wird.“
Myroslava hat überlebt. Als eine von 39 Personen wird sie lebend aus den Trümmern des bis dahin verheerendsten russischen Angriffs auf ein Wohngebäude gerettet.
Die erste Sorge gilt der neuen Jacke
46 Menschen haben nicht überlebt, elf werden bis heute offiziell vermisst. Maryna aber darf 24 Stunden nach dem Einschlag erstmals zu ihrer Tochter. „Mama, ich bin froh dich zu sehen“, sind ihre ersten Worte. Danach gilt Myroslavas Sorge erst einmal ihrer neuen Jacke. Sie trug sie, als sie verschüttet wurde.
Bald treten aber andere Dinge in den Vordergrund. Beide Hüften Myroslavas sind gebrochen, zudem braucht sie eine Hauttransplantation. Drei Monate leben Mutter und Tochter im Spital.
Als das Mädchen entlassen wird, ist von Gehen nach wie vor keine Rede. Doch es dauert noch eine Weile, bis sich Maryna an einen Anruf erinnert, den sie an einem der ersten Tage im Spital erhalten hat. Eine Sozialarbeiterin von SOS-Kinderdorf hat ihre Hilfe angeboten, und jetzt will Maryna sie annehmen. Fünf Monate nach der Entlassung kommen die beiden zum ersten Mal nach Modrychi.
Es sieht aus wie in den Alpen
Der Weg in das Rehabilitationszentrum am Rande der Karpaten, rund 70 Kilometer südwestlich von Lwiw (Lemberg), fühlt sich auf den letzten Kilometern ein bisschen an wie die Anfahrt in den Skiurlaub. Durch verschneite Birkenwälder führt die schmale, kurvige Straße, bis man plötzlich vor einer Ansammlung moderner, wuchtiger Holzhäuser steht.
Was aussieht wie ein Chaletdorf in den Alpen, ist eines der renommiertesten Rehazentren des Landes. Gegründet 2015 auf dem Gelände eines ehemaligen Hotelkomplexes, wurden hier bis zum russischen Überfall unter anderem komplizierte Wirbelsäulen- und Hirnverletzungen therapiert.
Heute sind es zum Großteil verletzte Soldaten, um die sich die 210 Angestellten kümmern. Rund 30 Prozent der 100 Patientinnen und Patienten sind aber auch kriegsversehrte Kinder – so wie Myroslava. Und darum sitzt sie nun, etwas mehr als ein Jahr nach dem Raketeneinschlag, der ihr Leben verändert hat, mit ihrer Mutter hier, im ersten Stock eines der Gebäude.
"Mama, ich will nicht mehr leben"
Es ist bereits ihr dritter Aufenthalt in Modrychi, und es ist ein langer und vor allem schmerzhafter Weg, den sie bis hierhin zurückgelegt hat. Irgendwann, erzählt Maryna, habe Myroslava einen Satz zu ihr gesagt, den keine Mutter je von ihrem Kind hören will und den sie nie vergessen wird: „Mama, ich will nicht mehr leben.“ Nur sehr schwer war sie davon zu überzeugen, dass sich der Kampf, das Leid, die Schmerzen lohnen.
Solche Geschichten kann auch Physiotherapeut Oleg erzählen. Zwar werden die Therapieeinheiten für die Kinder möglichst spielerisch gestaltet, trotzdem braucht es aber Disziplin, sagt er. Auch, weil Kinder das Prinzip von Ursache und Wirkung noch nicht so internalisiert haben. Sprich: Wenn du heute die Übung nicht machst, kannst du morgen nicht gehen.
Das zu vermitteln, ist auch Olegs Aufgabe. „Wir sind nicht nur Physiotherapeuten, sondern auch Psychologen“, sagt er. Anders sei es nicht möglich, das richtige Tempo und den richtigen Zugang für jedes Kind zu finden und sie zu motivieren. „Wir versuchen ihnen beizubringen, Bewegung zu lieben und zu schätzen“, sagt Oleg. Alles, um das letztendliche Ziel zu erreichen: die maximal mögliche Genesung.
Die Therapie ist aufwendig - und teuer
Mindestens ein Monat und maximal ein Jahr bleiben die Patientinnen und Patienten in der modernst ausgestatteten Einrichtung. Ob Laufband, Krafttraining oder Schwimmhalle: Alle werden maßgeschneidert therapiert.
Dazu kommt psychologische Betreuung, Sprachtherapie, Sozialarbeit. Und das kostet Geld. Rund 150 Euro am Tag kostet der Aufenthalt für Myroslava und ihre Mutter pro Tag. „Ohne die Unterstützung von SOS-Kinderdorf könnte ich mir das nicht leisten“, sagt Maryna. „Dafür bin ich sehr dankbar.“ Drei Familien finanziert die Hilfsorganisation den Aufenthalt hier – oder eben auch mehrere, wenn nötig.
Myroslava geht es nun, bei ihrem dritten Besuch in Modrychi, schon viel besser. Auch psychisch: Mittlerweile haben sich die Rollen vertauscht, erzählt eine SOS-Mitarbeiterin, mittlerweile ist die Tochter die Stärkere, die Kämpferin.
Wenn ihr die Ärzte gesagt haben, dass es nie mehr so sein wird wie vor ihrer Verletzung, hat Myroslava das nicht akzeptiert. Wie um das zu unterstreichen, nimmt das Mädchen ihre Mutter auch während des Gesprächs mit dem KURIER immer wieder in den Arm, wenn diese zwischendurch die Stimme verliert.
Das mag auch daran liegen, dass Myroslava heute weiß, wofür sie kämpft. Eines Tages einen Hund zu haben, das ist ihr Traum. Sie muss nur noch ein bisschen sicherer gehen können, dann wird er auch in Erfüllung gehen. Aus dem Tierheim soll er kommen, so viel ist schon klar.
Vielleicht wird es sogar ein Tier mit einer körperlichen Beeinträchtigung. „Die brauchen auch Liebe“, sagt Myroslava und lächelt.
Hinweis: Die Reise erfolgte auf Einladung von SOS-Kinderdorf. Projektinformation unter sos-kinderdorf.at/ukraine. Spendenkonto: IBAN: AT62 1600 0001 0117 3240, BIC: BTVAAT22, Kennwort: Ukraine.
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