Russische Truppen nehmen Cherson unter Feuer

Russische Truppen nehmen Cherson unter Feuer
Nach dem Abzug nimmt die russische Artillerie die strategisch wichtige Stadt sofort unter Beschuss.

Der Abzug der russischen Truppen aus Cherson ist kaum ein paar Stunden her, da nimmt die russische Artillerie die strategisch wichtige Stadt in der Südukraine wieder unter Feuer. "Aktuell werden Truppen und Militärtechnik der ukrainischen Streitkräfte auf dem rechten Ufer des Flusses Dnipro beschossen", teilte das russische Verteidigungsministerium mit.

Abzug am Freitagmorgen

Die russische Armee hat am Freitagmorgen nach eigenen Angaben ihren Rückzug aus dem Norden der Region Cherson abgeschlossen. Um 05.00 Uhr (04.00 Uhr MEZ) sei "der Transfer russischer Soldaten ans linke Ufer des Flusses Dnipro beendet" gewesen, teilte das russische Verteidigungsministerium mit. Am Nachmittag erreichten erste ukrainische Truppen den Hauptplatz der Stadt und wurden von einer begeisterten Menge empfangen, wie Videos in sozialen Netzwerken zeigten.

Im Zentrum der Stadt wurden ukrainische Flaggen gehisst. Die ersten ukrainischen Soldaten wurden von einigen Menschen euphorisch mit Umarmungen und Beifall begrüßt. "Cherson kehrt unter die Kontrolle der Ukraine zurück, Einheiten der ukrainischen Streitkräfte betreten die Stadt", schrieb das ukrainische Verteidigungsministerium im Online-Dienst Facebook und rief russische Soldaten, die sich noch vor Ort befänden, auf, "sich augenblicklich zu ergeben". Demnach hätten einige russische Soldaten den Befehl erhalten, sich als Zivilisten gekleidet in der Stadt zu verstecken.

Die ukrainische Regionalverwaltung warnt die Bevölkerung eindringlich davor, ihre Häuser zu verlassen, bevor ukrainische Truppen die Stadt vollständig eingenommen haben und die Suche nach möglicherweise zurückgelassenen russischen Truppen abgeschlossen sei. Örtlichen Berichten zufolge waren die ukrainischen Einheiten auch bereits in die Kleinstadt Beryslaw unweit des Kachowka-Staudamms eingerückt.

Beim Rückzug auf das andere Flussufer seien viele russische Soldaten ertrunken, behauptete die Regionalverwaltung von Cherson. Dabei sollen sie auch die wichtige und zuletzt durch ukrainischen Beschuss schwer beschädigte Antoniwka-Brücke über den Fluss Dnipro gesprengt haben. Das russische Verteidigungsministerium meldete Freitagmittag wiederum, mehr als 20 ukrainische Soldaten seien beim Versuch, den russischen Truppen nachzustellen, durch Minenfelder getötet worden, wie die staatliche russische Nachrichtenagentur RIA Novosti berichtete. Diese Meldungen können nicht unabhängig überprüft werden.

Laut russischem Verteidigungsministerium sei beim Abzug von rund 30.000 Soldaten "kein einziges Teil militärischer Ausrüstung und Waffen" auf der anderen Flussseite zurückgelassen worden. Moskau sieht das ukrainische Gebiet Cherson auch nach dem Abzug seiner Truppen weiter als russisches Staatsgebiet an. Das Gebiet Cherson bleibe Teil der Russischen Föderation, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow der Nachrichtenagentur Interfax zufolge. "Dieser Status ist per Gesetz bestimmt und gefestigt. Hier gibt es keine Änderungen und kann es keine geben", sagte Peskow.

Russland hatte am Mittwoch den Truppenabzug aus der Gebietshauptstadt Cherson angekündigt, weil die Versorgung der eigenen Soldaten etwa durch nicht mehr nutzbare Brücken unmöglich geworden war. Seither melden die ukrainischen Streitkräfte ein schrittweises Vorrücken in der Region. Mehrere Ortschaften wurden demnach wieder befreit. Nach dem Scheitern des Vormarschs auf Kiew und dem Rückzug bei Charkiw gilt dies als weitere militärische Niederlage Russlands.

Auf die Frage, ob die Niederlage in Cherson nicht erniedrigend sei für Putin, antwortete Peskow mit einem "Nein". Putin hatte Ende September vier ukrainische Gebiete, darunter Cherson, bei einer Zeremonie im Kreml vollmundig zu einem Teil Russlands erklärt. Peskow machte deutlich, dass der Kreml auch die Feier auf dem Roten Platz zur Einverleibung der Regionen nicht bereue. Die Weltgemeinschaft sieht in den Annexionen einen Völkerrechtsbruch.

Ukraine: Über 40 Dörfer erobert

Die Ukraine hat nach eigenen Angaben mehr als 40 Städte und Dörfer im Süden des Landes von Russland zurückerobert. 41 Siedlungen seien von den russischen Besatzern "befreit" worden, sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij in seiner Videoansprache. 

"Die Zahl der ukrainischen Flaggen, die im Rahmen der laufenden Verteidigungseinsätze an ihren rechtmäßigen Platz zurückkehren, beläuft sich bereits auf Dutzende", sagte Selenskij. Er sprach von "guten Nachrichten aus dem Süden".

Allein seit Mittwoch seien ukrainische Verbände bis zu sieben Kilometer tief in ehemals von Russen besetztes Gebiet vorgestoßen, berichtete der Oberkommandierende der ukrainischen Streitkräfte, Walerij Saluschnyj.

"Monate brutalen Kampfes"

Der Staatschef der Ukraine wies darauf hin, dass die aktuellen Erfolge der ukrainischen Streitkräfte "durch Monate brutalen Kampfes" erreicht worden seien. "Es ist nicht der Feind, der geht - es sind die Ukrainer, die die Besatzer verjagen", sagte Selenskij. "Und wir müssen den ganzen Weg gehen - auf dem Schlachtfeld und in der Diplomatie - damit überall in unserem Land, entlang unserer gesamten international anerkannten Grenze, unsere Flaggen - ukrainische Flaggen - zu sehen sind. Und keine feindlichen Trikoloren mehr."

Selenskij reagierte misstrauisch auf die Ankündigung. "Der Feind macht uns keine Geschenke, macht keine 'Gesten des guten Willens'", warnte er. Daher gehe die ukrainische Armee "sehr vorsichtig, ohne Emotionen, ohne unnötiges Risiko" vor. Selenskij bekräftigte das Ziel der Ukraine, "unser gesamtes Land zu befreien und die Verluste so niedrig wie möglich zu halten".

Würde Cherson wieder unter ukrainische Kontrolle kommen, könnten ukrainische Truppen von dort aus mit Artillerie mit großer Reichweite direkt die Krim treffen.

Munition aus Südkorea?

Unterdessen dementierte Südkorea am Freitag einen Bericht des "Wall Street Journal", wonach das Land über die USA Artilleriegeschosse an die Ukraine liefern wolle. Die Munition sei, wenn die Verhandlungen abgeschlossen seien, nur für US-Streitkräfte bestimmt, erklärte das Verteidigungsministerium in Seoul. Südkoreas "Politik, der Ukraine keine tödlichen Waffen zu liefern, bleibt unverändert".

Das "Wall Street Journal" hatte am Donnerstag berichtet, die USA wollten Munition aus Südkorea kaufen, die dann an die Ukraine geliefert werden solle. Die Vereinbarung stehe kurz vor dem Abschluss. Die Zeitung berief sich auf "mit der Angelegenheit betraute US-Beamte".

Biden pessimistisch

US-Präsident Joe Biden zeigt sich wenig optimistisch in Bezug auf ein baldiges Ende des Krieges in der Ukraine. Vor seiner Abreise zu einer Auslandsreise gab sich Biden vor Reportern im Weißen Haus eher pessimistisch, als er zu den Aussichten auf eine baldige Beilegung des Konfliktes gefragt wurde: "Ich glaube nicht, dass der Konflikt gelöst werden kann, solange Putin nicht aus der Ukraine verschwindet."

Mit Blick auf mögliche Verhandlungen mit Russland übt die US-Regierung nach eigenen Angaben keinen Druck auf die Ukraine aus. "Wir beharren nicht auf bestimmten Dingen, sondern wir beraten als Partner", sagte der Nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan am Donnerstag im Weißen Haus. Kiew hatte am Vortag ein neues Verhandlungsangebot aus Moskau auf Basis "der aktuellen Lage" abgelehnt. Als Voraussetzung für Gespräche mit Moskau verlangt die ukrainische Führung einen vollständigen Abzug der russischen Truppen.

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