Von der Landkarte gebombte Städte, Felder, die jenen von Verdun im Jahr 1918 gleichen – die Artillerie richtet im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine massive Verwüstung an. Täglich feuern russische und ukrainische Streitkräfte gemeinsam bis zu 30.000 Schuss – der Abnützungs- und Stellungskrieg, gepaart mit postsowjetischer Kriegsführung ist geprägt von "Granatenhunger", wie es Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin kürzlich nannte. "Im sogenannten Angriffsverfahren Ost pflügt die Artillerie durch ein einstündiges Vorbereitungsfeuer die Erde regelrecht um", Roland Plaschka, Gutachter der im Amt für Rüstung und Wehrtechnik des Österreichischen Bundesheeres, zum KURIER.
Erst dann rücken gepanzerte Fahrzeuge oder Panzergrenadiere vor. Während selbst die russischen Streitkräfte ihr Artilleriefeuer reduzieren müssen, droht den Ukrainern die Munition auszugehen.
Leere Munitionslager
Mit einer Million Stück will die EU in den kommenden zwölf Monaten Abhilfe schaffen – doch noch ist unklar, wann genau die erste Lieferung erfolgen soll. Und vor allem, wie. Die Streitkräfte der EU-Mitgliedsstaaten – Österreich ist nicht dabei – sollen in einem ersten Schritt 155mm-Munition aus ihren Beständen liefern und dafür entschädigt werden.
Über wie viele Artilleriegranaten die Mitgliedsländer noch verfügen, ist geheim – doch viel dürfte es nicht sein, vor allem wurden schon viele Artilleriegeschosse an die Ukraine geliefert. Je nach Berichten verfügt etwa Deutschland über Munition für einige Stunden oder höchstens Tage, käme es zum Krieg. Daher soll die europäische Rüstungsindustrie aushelfen, ihre Produktion versiebenfachen.
Vierzehn EU- und ein norwegisches Unternehmen produzieren jährlich etwa 300.000 Granaten – künftig sollen es zwei Millionen sein. Für die Produktion einer Artilleriegranate sind im Grunde Stahl, Kupfer und TNT notwendig.
Bis in einer modernen Rüstungsfabrik aus einem Stahlziegel ein Granatkörper wird, vergehen in der Regel 90 Sekunden. So schnell haben Geräte in den meisten Fabriken das Metall bei hoher Temperatur durchbohrt, gestreckt, gepresst. Einige – meist automatisierte – Arbeitsschritte später wird TNT in die Granate gegossen.
Unterschiede bei der Munition
Dass die Produktion sofort gesteigert wird, ist sehr unwahrscheinlich – erst müssen etwa Aufträge erteilt werden. Dazu kommt, dass Artilleriegranaten allein nicht ausreichen: "Im Gegensatz zur patronierten Munition, wie sie in Sturmgewehren oder Pistolen verwendet wird, wird bei der Artillerie vor allem ,getrennt zu ladende Munition’ verwendet", sagt Plaschka. "Bei der Pistole ist alles abgepackt: Projektil, Hülse, Treibladung, Anzündmedium."
Vereinfacht gesagt bedeutet das, dass die Artilleriegranate durch eine sogenannte Treibladung aus dem Artillerierohr befördert wird. Und in diesem Bereich besteht am europäischen Markt ebenso massiver Bedarf: Einer der größten europäischen Hersteller, das französische Unternehmen EURENCO, will seine Produktion steigern – allerdings erst ab 2025.
Neben dem Fachkräftemangel ist auch die Rohstoffversorgung ein massives Problem, etwa bei den sogenannten "Linters" – einem Nebenprodukt der Baumwollstofferzeugung, das für die Produktion von Treibladung essenziell ist. Wichtigster Lieferant für diesen Rohstoff: China. Die Lieferzeiten nach Europa haben sich drastisch verlängert, sollen bis zu neun Monate betragen. Zuvor waren es drei. Ein wichtiger Teil der europäischen Treibladungsproduktion hängt also auch vom Gutdünken Pekings ab.
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