Türkei droht mit "Flüchtlingsflut", Experte kritisiert EU-Ohnmacht
Der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim hat Europa indirekt mit der Aufkündigung des Flüchtlingspakts gedroht. "Wir sind einer der Faktoren, die Europa beschützen. Wenn Flüchtlinge durchkommen, werden sie Europa überfluten und übernehmen. "Die Türkei verhindert das", sagte Yildirim am Donnerstag im Fernsehen.
Ein Einfrieren der EU-Beitrittsgespräche würde Europa deutlich stärker schaden als der Türkei. Das EU-Parlament hatte zuvor nach langen Diskussionen mit breiter Mehrheit dafür gestimmt, die Beitrittsgespräche mit Ankara vorerst auf Eis zu legen. Die Resolution ist für die EU-Kommission und EU-Mitgliedsländer allerdings nicht bindend. Die Türkei reagierte empört darauf.
"Utopische Vorstellung"
Der Türkei-Experte Gerald Knaus wertet die Resolution des Europaparlaments zum Stopp der EU-Beitrittsverhandlungen mit Ankara als Zeichen der Ohnmacht Brüssels. "Die Vorstellung, dass man die Türkei mit solchen Signalen dazu zwingen kann, den Kurs zu ändern, ist utopisch", sagte der Direktor des Thinktanks Europäische Stabilitäts-Initiative (ESI) in der Nacht auf Freitag in der ZiB24.
In den vergangenen sechs Jahren seien drei Kapitel in den Beitrittsverhandlungen eröffnet worden, sagte Knaus. "Wenn die EU sagt, wir suspendieren das Öffnen von Kapiteln, dann ist das kein großer Schock für die Türken." Außerdem betreffe die Resolution nicht die Vorbeitrittshilfen für die Türkei und die jährlichen Fortschrittsberichte, bei denen es keine Veränderung gebe. "Der Berg hat hier eine Maus geboren."
Schaden für beide Seiten
Der als Vater des EU-Türkei-Flüchtlingsdeals geltende österreichische Politikexperte betonte, dass es in dem jetzigen Konflikt für beide Seiten nicht so leicht sei, "zu eskalieren". "Beide Seiten können der anderen Seite nur schaden, wenn sie sich selbst schaden", sagte Knaus. Er strich die Bedeutung der EU-Annäherung für jenes Lager hervor, das weiter auf eine demokratische Türkei hoffe. Das Land habe nämlich seine "besten Jahre" gehabt, als es sich an der EU orientierte. Diese Menschen hoffen, "dass irgendein Faden in diesen Beziehungen erhalten bleibt".
Das Verhalten des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan wertet Knaus als Zeichen von "Panik" und Kontrollverlust. Die Massenentlassungen im öffentlichen Dienst und das Vorgehen gegen Opposition und Medien zeigen, dass Erdogan "nicht mehr weiß, wem er vertrauen kann". Doch ist das Vorgehen auch kontraproduktiv: "Alle Entlassungen führen dazu, dass die Gruppe der Feinde im Land weiter wächst."
Das Europaparlament hatte am Donnerstag als erste EU-Institution offiziell ein Einfrieren der EU-Beitrittsverhandlungen gefordert. Die Resolution hat keine rechtliche Wirkung, weil die Verhandlungen von der EU-Kommission und den Mitgliedsstaaten geführt werden. Die Türkei hat im Jahr 1989 einen Beitritt zur damaligen Europäischen Gemeinschaft beantragt, im Jahr 1999 erhielt sie den Beitrittswerberstatus, im Jahr 2005 wurde das erste Verhandlungskapitel eröffnet. Eine Voraussetzung dafür war die Abschaffung der Todesstrafe, an deren Wiedereinführung die Erdogan-Regierung seit dem gescheiterten Putschversuch vom Juli denkt.
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