Türkei: Showdown in Istanbul nach dem "gestohlenen Sieg"

Türkei: Showdown in Istanbul nach dem "gestohlenen Sieg"
Nach Annullierung der Wahl vom März beginnt ein neuer Wahlkampf. Es geht um viel, wenn nicht um Alles.

Mustafa Ekmekçi bringt erst einmal Tee. Auch wenn im Büro der säkularistischen Oppositionspartei CHP im Istanbuler Stadtteil Kadıköy in diesen Tagen viel zu tun ist, sollen sich die Besucher willkommen fühlen. Im Parteibüro liegen noch Broschüren des CHP-Oberbürgermeisters Ekrem Imamoğlu aus dem letzten Kommunalwahlkampf im März auf. Die Blätter kommen jetzt bald wieder zum Einsatz, denn Imamoğlu ist auf Betreiben der Regierung in Ankara abgesetzt worden: Im Juni wird neu gewählt. Ekmekçi und seine Kollegen bei der CHP bereiten sich auf eine neue "Schlacht" vor – und sie sind entschlossen, sie zu gewinnen.

"Alle stehen hinter uns", sagt Ekmekçi. Die Entrüstung darüber, dass Imamoğlu nach seinem Sensationssieg vom März gleich wieder aus dem Amt gedrängt wurde, nur weil Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seine Partei AKP das so wollten, reicht weit über die Parteigrenze der CHP hinaus. Sogar die drei großen Fußballvereine von Istanbul – Fenerbahçe, Beşiktaş und Galatasaray – seien auf der Seite ihres Kandidaten, sagt Ekmekçi stolz. In Kadıköy besteht an der Solidarität der Fußballfans mit Imamoğlu kein Zweifel, denn der Stadtteil ist eine Hochburg der CHP, und das Fenerbahçe-Stadion steht gleich um die Ecke.

In den Räumen des CHP-Büros herrscht reger Besucherverkehr. "Die haben uns den Sieg gestohlen", sagt eine junge Frau. Die Empörung über die Entscheidung der Wahlkommission, Imamoğlu nach nur wenigen Wochen im Amt abzulösen, verdunkelt aber nur kurz ihr Gesicht. Dann lächelt sie. "Wir werden stark sein im Juni. Besonders die Frauen werden am 23. Juni an die Urnen gehen", ist sie sicher. "Alle meine Nachbarinnen sagen das auch."

Die CHP, die in den vergangenen Jahren als stärkste Oppositionspartei im Land mehr mit inneren Machtspielchen auffiel als mit der Präsentation einer glaubhaften Alternative zu Erdoğans siegesgewohnter AKP, kann sich plötzlich vor Freiwilligen kaum retten. Mit den zusätzlichen Wahlhelfern will die Partei sicherstellen, dass es im Juni keine Wahlmanipulationen durch die Regierungsseite gibt und dass die Wahlergebnisse schnell veröffentlicht werden. Bei der März-Wahl hatte die regierungsamtliche Nachrichtenagentur die Berichterstattung über die Stimmenauszählung in dem Moment gestoppt, in dem Imamoğlu dabei war, den AKP-Kandidaten Binali Yıldırım zu überholen.

"Revolution" für Demokratie

Imamoğlu hat der Opposition die Zuversicht zurückgegeben. Nach langen Jahren der AKP-Siege hat er gezeigt, dass Erdoğan auf demokratischem Weg geschlagen werden kann. Er spricht von einer "Revolution" für die Demokratie im Land. Und er präsentiert sich, wie schon im Wahlkampf im März, als Anti-Erdoğan. Wo der Präsident die politischen Gegner beschimpft, ruft Imamoğlu zur Versöhnung auf. Wo Erdoğan droht, betont Imamoğlu, niemand dürfe ausgegrenzt werden.

Türkei: Showdown in Istanbul nach dem "gestohlenen Sieg"

Ekrem Imamoglu hat vor allem eines getan: Er at vorgeführt, dass Erdoğan  besiegt werden kann.

Imamoğlu sei mehr als nur der Kandidat der CHP, sagte der Politologe Ersin Kalaycıoğlu der Nachrichtenplattform T24. Viele Istanbuler seien nicht damit einverstanden, wie die Regierung in Ankara mit dem gewählten Bürgermeister Istanbuls umgesprungen sei. Ein Istanbuler Buchhändler bringt es auf den Punkt: "Imamoğlu ist der Anführer, auf den die Leute gewartet haben."

Bisher hat die Regierungspartei AKP noch kein Rezept gegen den stets freundlich auftretenden Imamoğlu gefunden, der bei der Wahl Wählerstimmen sowohl von Nationalisten als auch von Kurden eingesammelt hat.

Und während sich die Opposition in seltener Geschlossenheit präsentiert, nimmt in der AKP ein Richtungskampf an Fahrt auf. Der ehemalige Präsident Abdullah Gül und Ex-Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu, langjährige Weggefährten Erdoğans, haben die Absetzung von Imamoğlu öffentlich scharf kritisiert. So etwas hat es in der Geschichte der bisher Erdoğan-hörigen Regierungspartei noch nicht gegeben.

Die Kritik von Gül und Davutoğluan Imamoğlus Entmachtung wird zugleich auch von vielen AKP-Wählern an der Basis geteilt. Im März hatte der Istanbuler AKP-Bürgermeisterkandidat Yıldırım rund 48,5 Prozent der Stimmen erhalten – doch nach einer Umfrage schließen sich nur 36 Prozent der Istanbuler Wähler dem Regierungsargument an, bei Imamoğlus Sieg gegen Yıldırım habe es Unregelmäßigkeiten gegeben. Im Juni könnten deshalb weitere AKP-Anhänger von der Fahne gehen, sagte der Meinungsforscher Mehmet Ali Kulat im Fernsehsender TV5.

Absage der Wahl?

Manche glauben deshalb, Imamoğlu sei der Sieg im Juni kaum noch zu nehmen, doch nicht alle sind so optimistisch. "Ich glaube nicht dran", sagt eine prominente Anwältin. Wie viele Anhänger der Opposition befürchtet sie, dass Erdoğan und die AKP auch zu unlauteren Mitteln greifen werden, um Imamoğlu auf seinem Weg in den Bürgermeistersessel zu stoppen.

Eines dieser Mittel könnte für die AKP-Regierung darin bestehen, die Wahl im Juni einfach abzusagen, meint der Buchhändler. "Die wollen Istanbul einfach nicht aufgeben", sagt er. Das hat vor allem auch einen Grund: Die größte Stadt des Landes verfügt über einen Milliarden-Haushalt, der es der AKP bisher ermöglicht hat, über Subventionen und öffentliche Aufträge regierungsnahe Verbände und Unternehmen bei Laune zu halten.

Offensive Erdoğans

Erdoğans Partei will an diesem Montag mit ihrem Wahlkampf beginnen. Laut Medienberichten will der Präsident in den sieben Wochen bis zum Wahltag in allen 39 Bezirken der Mega-Stadt mit ihren 15 Millionen Einwohnern auftreten. Dazu sind Fernsehinterviews und gemeinsame Kundgebungen des Staatschefs mit seinem politischen Partner Devlet Bahçeli, dem Chef der rechtsnationalistischen Partei MHP, vorgesehen.

Der Plan macht deutlich, dass die Schlacht um Istanbul von der Regierung in Ankara als Schicksalswahl von herausragender, vor allem aber nationaler Bedeutung betrachtet wird. Erdoğans Gegenspieler Imamoğlu sieht das ähnlich: Die Istanbuler Wahl, so sagt er, ist zu einem "Symbol der Demokratie" geworden.

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Istanbul: Die Machtbasis Erdoğans

Herkunft Hafenviertel - Recep Tayyip Erdoğan wurde 1954 im Istanbuler Hafenviertel Kasımpaşa geboren. In Istanbul schloss er zunächst eine Ausbildung zum Imam ab, studierte dann aber bis 1981 Wirtschafts- und Verwaltungswirtschaften. 1978 heiratete er seine Frau Emine. Das Paar hat zwei Söhne und zwei Töchter.

Einstieg in die Politik - 1984 wurde Erdoğan zum Vize-Vorsitzenden der religiös-konservativen Partei RP.  1994 nominierte ihn die RP für die Bürgermeisterwahl in Istanbul. Erdoğan gewann und verfolgte eine konservative Politik. Er führte gesonderte Badezonen für Frauen und Männer sowie getrennte Schulbusse ein. In städtischen Lokalen wurde die Alkohol-Ausschank verboten. Aus dieser Zeit stammt die Aussage Erdoğans, dass es nicht möglich sei, zugleich Laizist und Moslem zu sein.

Haft und Aufstieg mit der AKP - 1998 wurde die RP verboten. Erdoğan wurde zu zehn Monaten Haft verurteilt, saß vier Monate ab und gründete danach die Nachfolgepartei FP mit. 2001 wurde auch diese verboten, woraufhin Erdoğan  mit anderen FP-Leuten, Nationalisten, Liberalkonservativen und Anhängern der "Gemeinde" um Prediger Gülen die AKP ins Leben rief. Bei den Wahlen 2002 trat die Partei erstmals an und erreichte 34 Prozent. Ab 2003 war Erdoğan Ministerpräsident. Seit August 2014 ist er Präsident, wobei er an einer Ausweitung der Kompetenzen dieses Amtes arbeitete. Im April 2017 ließ er über dahin gehende Verfassungsänderungen abstimmen. In Istanbul stimmte die Mehrheit dagegen.

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