Neuwahl in Istanbul: Opposition sieht "Diktatur"
Mehr als einen Monat nach der Bürgermeisterwahl in der Türkei hat die türkische Wahlkommission die Abstimmung in Istanbul annulliert und eine Wiederholung angeordnet. Damit gab sie am Montag einem Antrag der Regierungspartei von Präsident Recep Tayyip Erdogan statt.
Die Wahlkommission hatte den Wahlsieg des Oppositionspolitikers Ekrem Imamoglu im April anerkannt, allerdings könnte ihm das Mandat nun wieder abgenommen werden.
Erdogans Einspruch
Imamoglu hatte die Kommunalwahl in Istanbul am 31. März mit einem Vorsprung von nur rund 24.000 Stimmen vor Ex-Ministerpräsident Binali Yildirim gewonnen. Nach dem Einspruch der Regierungspartei AKP und einer Neuauszählung in mehreren Bezirken schrumpfte der Unterschied zwar, konnte von der AKP aber nicht mehr aufgeholt werden. Die AKP beantragte daraufhin eine Wiederholung der Abstimmung in Istanbul und forderte unter anderem eine Überprüfung der Wahlhelfer.
Die Hauptstadt Ankara, die ebenfalls an die Opposition ging, und die Wirtschaftsmetropole Istanbul wurden 25 Jahre lang von islamisch-konservativen Bürgermeistern regiert. Die Niederlage für die AKP in diesen Städten war ein Gesichtsverlust für Erdogan, der selbst einst Bürgermeister von Istanbul war.
Medienberichten zufolge wird in der 15-Millionen-Einwohner-Metropole am 23. Juni neu gewählt.
"System gegen Willen des Volkes"
Noch-Bürgermeister Imamoglu kündigte eine Erklärung an. Er reagierte zunächst gelassen, teilte ein Video auf Twitter, das ihn beim Fastenbrechen zeigt, und sagte: "Alles wird sehr gut, meine Bürger, meine lieben Leute. Alles wird gut."
CHP-Vizechef Onursal Adigüzel zeigte sich dagegen empört: "Gegen die AKP bei der Wahl anzutreten ist erlaubt, aber gewinnen ist verboten", schrieb er auf Twitter. "Dieses System, das den Willen des Volkes mit Füßen tritt und die Justiz ignoriert, ist weder demokratisch noch legitim. Das ist schlicht und einfach eine Diktatur."
In mehreren Bezirken Istanbuls standen die Menschen an den Fenstern und schlugen auf Töpfe und Pfannen - eine Protestform, die sich während der regierungskritischen Gezi-Proteste von 2013 etablierte hatte.
Auswirkungen auf Wirtschaft wahrscheinlich
Das wochenlange Gezerre um das Ergebnis in der größten Stadt der Türkei wurde auch international aufmerksam verfolgt. Die Entscheidung der Wahlkommission könnte sich auch auf die ohnehin angeschlagene türkische Wirtschaft auswirken und zu einem weiteren Verfall der Lira führen. Die Türkei befindet sich seit Ende des Jahres in der Rezession. Die Inflation liegt konstant hoch bei rund 20 Prozent. Vor allem Lebensmittel werden immer teurer.
Landesweit wurde Erdogans AKP bei der Kommunalwahl stärkste Partei. Allerdings verlor sie in Metropolen Zuspruch. Vier der fünf größten Städte des Landes gingen an die Opposition.
Bürgermeister verurteilte Kommission
Bürgermeister Ekrem Imamoglu die Wahlkommission YSK scharf verurteilt. Vor vielen Anhängern sprach er kurz vor Mitternacht im Viertel Beylikdüzü. "Ich verurteile die Hohe Wahlbehörde", rief er. Es sei eine hinterhältige Entscheidung gewesen.
Imamoglu machte darauf aufmerksam, dass auch die Präsidentschaftswahl im vergangenen Jahr mit denselben, nun von der AKP beanstandeten Wahlhelfern stattgefunden habe. Dann sei die Wahl, die Präsident Recep Tayyip Erdogan im Amt bestätigt hatte, ja wohl auch fehlerhaft, meinte Imamoglu.
Imamoglu sprach seinen Wählern Trost zu. Manche seien hoffnungslos. Sie sollten nicht weinen, sagte Imamoglu, der sich im Lauf seiner etwa 20-minütigen Rede das Jacket auszog, die Hemdsärmel hochkrempelte und umgehend wieder mit dem Wahlkampf begann. "Ihr werdet sehen, wir werden gewinnen", rief er. Die Menge im Hintergrund forderte in Sprechchören den Rücktritt der Wahlbehörde und skandierte "Recht, Gesetz, Gerechtigkeit" sowie "Dieb Tayyip" in Anspielung auf Präsident Recep Tayyip Erdogan, der auch AKP-Chef ist.
EU fordert Begründung
EU-Chefdiplomatin Federica Mogherini und Nachbarschafts-und Erweiterungskommissar Johannes Hahn riefen die zuständige Wahlkommission am Montag dazu auf, unverzüglich Einblick in die Gründe ihrer Entscheidung zu gewähren.
"Die Begründung für diese weitreichende Entscheidung, getroffen in einem höchst politisierten Kontext, sollte unverzüglich einer öffentlichen Untersuchung zugänglich gemacht werden", erklärten Mogherini und Hahn in einer gemeinsamen Erklärung.
Freie, faire und transparente Wahlen seien essenziell für jede Demokratie und auch für die Beziehung zwischen der EU und der Türkei, heißt es in ihrer Stellungnahme. "Es ist wichtig, dass die Istanbuler Wahlkommission ihre Arbeit in einer unabhängigen, offenen und transparenten Art ausüben kann." Internationale Wahlbeobachter müssten auch bei der Neuwahl willkommen sein.
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