Erdogans Abwesenheit lässt hoffen
In der Hauptstadt Ankara soll ein weiterer Demonstrant seinen Verletzungen erlegen sein. Das berichtet die Hürriyet Daily News am Mittwoch. Damit starben bereits drei Menschen bei den schwersten Protesten im Land seit dem Amtsantritt von Premier Recep Tayyip Erdogan vor zehn Jahren. Zudem haben Anhänger Erdogans erstmals Demonstranten angegriffen. Die Polizei und der Bürgermeister konnten eine Eskalation in der Schwarzmeerstadt Rize verhindern.
Nach dem Motto „Schnell, bevor der Chef zurück ist“ bemüht sich die türkische Regierung nun unter Druck um eine Entschärfung der Unruhen. Während Erdogan eine Reise durch Nordafrika fortsetzte, traf sich sein Stellvertreter Bülent Arinc am Mittwoch in Ankara mit Vertretern von Gruppen und Verbänden, um über den Streit zu reden, der die Zusammenstöße zwischen Demonstranten und Polizei auslöste: die geplante Umwandlung des kleinen Gezi-Parks in Istanbul in ein Einkaufszentrum.
Ganz Ankara befasst sich mit Krisen-Management, Staatspräsident Abdullah Gül hat in Abwesenheit Erdogans das Heft in die Hand genommen. Bei einem Treffen am Dienstag trug Gül Vizepremier Arinc auf, er solle sich für die brutalen Polizeieinsätze der vergangenen Tage entschuldigen, was Arinc auch tat. Gül will alles tun, um die Lage im Land zu entspannen. Er deutete sogar an, dass er die Unterschrift unter das umstrittene Alkohol-Gesetz der Regierung Erdogan verweigern könnte – viele Türken fühlen sich von Gesetzen wie diesem in ihrer Lebensgestaltung gegängelt.
Dass der Mann, um den sich alles dreht, nicht zu Hause ist, macht Sinn. Nachdem er die Demonstranten verhöhnt und beschimpft hat, wäre eine gesichtswahrende Lösung des Konflikts durch Erdogan selbst kaum möglich; erst vor ein paar Tagen bekräftigte er, er werde nicht nur das Einkaufszentrum bauen, sondern noch eine Moschee dazu. Ein Parteifreund Erdogans sorgte für Entrüstung, indem er auch den Abriss des Mausoleums von Staatsgründer Atatürk in Ankara forderte.
Entschlossenheit
Die Frage in Ankara und Istanbul gleichermaßen lautet, was geschieht, wenn Erdogan zurückkehrt. An der Entschlossenheit der Protestbewegung gibt es keinen Zweifel. Mehrere Gewerkschaften und Berufsverbände ließen am Mittwoch ihre Mitglieder aufmarschieren, um die Demonstranten zu unterstützen. Gleichzeitig wurde zum Streik gerufen.
Auch die Erdogan-Anhänger bleiben hart. Melih Gökcek, Bürgermeister von Ankara und Mitglied der Erdogan-Partei AKP, drohte allen städtischen Beamten mit Entlassung, sollten sie sich an Protesten beteiligen. In Zonguldak am Schwarzen Meer verlangte die Schulbehörde von Schulen die Namen aller Schüler, die wegen Demos schwänzten.
Die Polizei im westtürkischen Izmir nahm fast 30 Menschen fest, die über Twitter angeblich zum Aufstand aufgerufen haben sollen. Die Zeitung Hürriyet meldete, einigen Festgenommenen werde zur Last gelegt, ein Foto verbreitet zu haben, das einen prügelnden Polizisten zeigt – damit werde die Bevölkerung gegen die Polizei aufgehetzt. Und das in einer Stadt, in der die Behörden jetzt zugeben mussten, dass Polizisten in Zivil mit Knüppel loszogen, um Demonstranten zu schlagen.
Solidarisierung
Mit einem solchem Vorgehen verhärten sich die Fronten. „Repressiv und autoritär“ sei die Erdogan-Regierung geworden, schrieb Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk in einem Beitrag für mehrere Zeitungen. Auch andere prominente Türken erklärten sich mit der Protestbewegung solidarisch. So tauchten Schauspieler der Erfolgsserie „Prächtiges Jahrhundert“ über das Leben des Osmanen-Sultans Sülyeman bei den Demonstranten auf. Der Popsänger Tarkan signalisierte ebenfalls seine Unterstützung.
Wie nervös die Regierung ist, zeigt ein Telefonat von Außenminister Ahmet Davutoglu, einem engen Berater Erdogans. Davutoglu rief seinen US-Kollegen John Kerry an, um seinen Unmut über dessen öffentliche Kritik am Vorgehen der Polizei zu deponieren. Möglicherweise wird Kerry noch einmal Gelegenheit haben, sich zur Lage in der Türkei zu äußern – wenn Erdogan wieder nach Hause zurückkehrt.
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