Politologe: "Bewegung hat ersten Sieg errungen"

Türkei: In Istanbul zieht sich die Polizei nach blutigen Zusammenstößen zurück. Fast tausend Festnahmen.

Die Polizei setzte tagelang Wasserwerfer und Tränengas ein, verhaftete fast tausend Menschen in 48 türkischen Städten. In der Nacht auf Sonntag hat sie schließlich den zentralen Ort des Istanbuler Protests, den Taksim-Platz, verlassen – Tausende feiern nun dessen Rückeroberung. Weiterhin rufen sie „Regierung tritt zurück“, „Wir sind hier, wo bist du?“ und richten ihre Kritik damit direkt an Regierungschef Recep Tayyip Erdogan. Dieser zeigte sich am Samstag unbeirrt: "Wenn ihr 100.000 Menschen versammelt, können wir eine Million versammeln", so Erdogan über Twitter.

"Türkei noch keine reife Demokratie"

Anfangs ging es nur um den Gezi-Park in Istanbul, doch dann folgten Bürger in der ganzen Türkei: "Überall ist Taksim", skandierten sie. Ihnen geht es längst nicht mehr nur um einige Bäume. Sie fordern weniger Despotismus, mehr Demokratie. Das brutale Vorgehen der Polizei gegen die Demonstranten empört die Menschen. "Die unverhältnismäßige Polizeigewalt gegenüber einer friedlichen Bewegung hat gezeigt, dass das Bild eines demokratischen Erdogans in den westlichen Medien falsch ist. Die Türkei ist immer noch keine reife Demokratie", erklärt der türkische Politologe Baris Tugrul gegenüber den KURIER. "Gezi ist nur der Ausgangspunkt: Erstmals wird der 'unbesiegbare' Erdogan von einer breiten Front aus kritisiert. Durch den Rückzug der Polizei vom Taksim-Platz hat die Bewegung bereits einen ersten Sieg errungen."

Unter den Demonstranten waren nicht nur Gegner des Gezi-Park-Projekts, sondern auch zahlreiche Oppositionspolitiker und Künstler. 79 Menschen wurden in den vergangenen Tagen verletzt, darunter 53 Zivilisten und 26 Polizisten; bei Protesten in 48 Städten wurden offiziellen Angaben zufolge zudem insgesamt 939 Menschen festgenommen. Das berichtet die Onlineausgabe der Zeitung Hürriyet in der Nacht zum Sonntag. Amnesty International hingegen spricht von zwei Toten und mehr als 1000 Verletzten.

"Unglaubliche Solidarität"

Auf Twitter und Facebook wurde in den vergangenen Tagen unter dem Hashtag #occupygezi von unzähligen brutalen Übergriffen seitens der Einsatzkräfte berichtet. International wurde das Vorgehen gegen die Demonstranten scharf kritisiert, in mehreren Städten kam es zu Solidaritätskundgebungen (auch in Wien, siehe unten).

Augenzeugen erzählen außerdem von einer "unglaublichen Solidarität" unter den Menschen. Ärzte und Anwälte hätten ihre Hilfe angeboten, teilten ihre Telefonnummern auf Facebook und Twitter. Geschäfte und Lokale veröffentlichten ihre WiFi-Zugangsdaten, um den Demonstranten den Zugang zum Internet zu erleichtern.

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TURKEY DEMONSTRATION
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An anti-government protester gestures during a dem
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Riot police shield themselves from stones thrown b
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TURKEY SHOPPING MALL PROTEST
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TURKEY SHOPPING MALL PROTEST
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TURKEY SHOPPING MALL PROTEST
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TURKEY SHOPPING MALL PROTEST
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A demonstrator reacts as riot police use water can
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A Turkish riot policeman uses tear gas as a demons
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TURKEY SHOPPING MALL PROTEST
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TURKEY SHOPPING MALL PROTEST
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GERMANY TURKEY ISTANBUL PROTESTS
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TURKEY SHOPPING MALL PROTEST
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A demonstrator is hit by water cannon used by riot
Politologe: "Bewegung hat ersten Sieg errungen"

Demonstrator reacts as riot police use water canno

Erneut Zusammenstöße

Trotz des Rückzugs der Polizei ist aber noch kein Frieden in Istanbul eingekehrt. Aktivisten sprechen von erneuten Zusammenstößen im Stadtteil Besiktas. WieAl Jazeera berichtet, glich der Taksim-Platz am Sonntagmorgen außerdem einem Schlachtfeld. Mehrere ausgebrannte Polizeiautos und eingeschlagene Schaufensterscheiben zeugten von den gewaltsamen Zusammenstößen. Am Nachmittag kehrten tausende Demonstranten zurück auf den Platz. „Die Proteste werden sich die nächsten Tage aber beruhigen", so Baris Tugrul. Der für die Universität Ankara tätige Politikwissenschaftler beobachtet die Entwicklungen mit großer Aufmerksamkeit: "Die Regierung muss aufpassen: Der Gezi-Park hat sich zu einem Symbol des Widerstands entwickelt. Jegliche schlecht überlegte Reaktion kann zu sozialen Unruhen führen".

Das Innenministerium kündigte inzwischen an, dass Polizeibeamte, die "unverhältnismäßig" agierten, mit rechtlichen Folgen rechnen müssten. Ministerpräsident Erdogan räumte schließlich auch in einer TV-Ansprache ein, die Polizei habe in einigen Fällen "extrem" auf die gewaltsamen Demonstrationen reagiert. „Der Einsatz von Pfefferspray durch die Sicherheitskräfte war ein Fehler. Ich habe das Innenministerium angeordnet, dies zu untersuchen“, sagte Erdogan. Die Demonstranten rief er auf, die Proteste zu beenden.

Gesprächsbereitschaft

Auf dem Gezi-Park soll nach Plänen der Regierung unter anderem ein Einkaufszentrum entstehen. Derzeit sind nur 1,5 Prozent der Stadt begrünt - der Park ist eine der letzten Grünflächen im Zentrum Istanbuls. Ein Berater von Ministerpräsident Recep Tayyip Edogan ließ nun über Twitter wissen, dass der Bürgermeister von Istanbul am Sonntag mit Vertretern der Taksim-Gazi-Park-Plattform und der Architektenkammer zu Gesprächen zusammenkommen will, um eine gemeinsame Lösung für den Streit zu finden. Ein Istanbuler Gericht untersagte den Behörden unterdessen bis auf Weiteres, die Bäume im Gezi-Park zu fällen.

Zehntausende waren es in Istanbul - immerhin 1.800 gingen auch in Wien auf die Straße, um so ihrem Unmut mit der Politik der türkischen Regierung Ausdruck zu verleihen. Unter dem Motto "Halt durch Gezi-Park. Wien ist hinter dir" bewegte sich der Protestzug am Samstagnachmittag vom Karlsplatz zum Stadtpark (siehe Video hier). Die vorwiegend jungen Teilnehmer schwenkten türkische Fahnen. "Istanbul, du bist nicht allein" stand auf einem großen Transparent. "Stopp der Polizeigewalt" und "Mörder Erdogan" war auf anderen Plakaten zu lesen. Die Situation in Wien blieb entspannt. "Total friedlich und ruhig," sei die Demonstration verlaufen, hieß es vonseiten der Wiener Polizei.

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