Erdogan zieht den Flüchtlingsjoker

Wie glaubhaft sind die Drohungen des türkischen Staatspräsidenten? Auch die Türkei müsste mit Nachteilen rechnen. Freitagabend drohte Erdogan damit, dass er einer Wiedereinführung der Todesstrafe zustimmen werde.

Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan kennt die Schwachstelle der EU gut und er nutzt sie prompt. Auf die Empfehlung des EU-Parlaments, die Beitrittsgespräche einzufrieren, reagiert er mit der Drohung, Flüchtlinge nach Europa zu lassen: "Passt auf, wenn Ihr noch weitergeht, dann werden diese Grenzübergänge geöffnet. Lasst Euch das gesagt sein."

"Werde Gesetz zur Einführung der Todesstrafe unterzeichnen"

Nach seiner Drohung mit einer Aufkündigung des Flüchtlingspakts hat Erdogan die EU auch gewarnt, dass er einer Wiedereinführung der Todesstrafe zustimmen werde. Sollte das Parlament dies beschließen, werde er das Gesetz unterschreiben, sagte Erdogan am Freitag bei einer Rede in Istanbul.

"Demokratie besteht darin, den Willen des Volkes zu respektieren", sagte der türkische Präsident. Nach dem Resolutionsentwurf des Europaparlaments sollen die EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei bei einer Wiedereinführung der Todesstrafe formal suspendiert werden. Das käme einem Ende des Beitrittsprozesses gleich.

Flüchtlinge aus Syrien lässt die Türkei schon lange nicht mehr so einfach ins eigene Land. Grenzen öffnen bedeutet vor allem, nicht mehr genau hinzuschauen, wenn Migranten aus der Türkei mit dem Boot auf eine der griechischen Inseln übersetzen. Damit droht Erdogan, den im März geschlossenen Flüchtlingspakt mit der EU zu untergraben - und setzt die ohnehin schon unterirdischen Beziehungen zur EU aufs Spiel.

Damals wurde quasi ein Tauschhandel vereinbart: Europa darf alle Migranten, die illegal über die Türkei auf die griechischen Inseln kommen, zurückschicken. Im Gegenzug hat die EU unter anderem zugesagt, nach Erfüllung von 72 Kriterien die Visumpflicht für türkische Staatsbürger aufzuheben. Die EU hat sich damit in eine Abhängigkeit begeben, die Ankara zu nutzen weiß.

Rund drei Millionen Geflüchtete alleine aus Syrien beherbergt die Türkei. Auch wenn sich davon nicht alle gleich nach Europa aufmachen wollen, weiß Erdogan um den Abschreckungseffekt. Die EU reagierte zunächst dennoch gelassen und sprach von "hypothetischen Szenarien".

Erdogans demonstrative Haltung, nicht auf die Europäer angewiesen zu sein, macht in der Türkei Eindruck. Die Zeitung "Yeni Safak", ein Sprachrohr der islamisch-konservativen AKP-Regierung, titelte am Freitag zum Thema EU: "Macht doch was ihr wollt." Darunter kam die Aufforderung, den Flüchtlingspakt aufzukündigen.

Immer wieder benutzt die Türkei die Flüchtlinge als Drohung - zuletzt beim Thema Visumfreiheit. Außenminister Mevlüt Cavusolgu mahnte, man werde den Pakt aufkündigen, sollte es keine Fortschritte geben. Kritisch sehen die Europäer vor allem die Terrorgesetze der Türkei. Brüssel verlangt eine Reform, die Türkei weigert sich. Beendet Ankara das Abkommen wirklich, würde der Regierung auch ein Hebel fehlen, um Europa in Zukunft unter Druck zu setzen.

Aus Sicht der türkischen Führung hält die EU die Türkei bei den Themen Visumfreiheit und Beitrittsverhandlungen ohnehin schon viel zu lange hin. Die Türkei setzt daher auch auf einen Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen zu China und Russland. Doch gerade beim Thema Wirtschaft hat Erdogan auch viel zu verlieren. Europa ist als wichtiger Handelspartner nicht so einfach zu ersetzen.

Zudem stürzt die Türkische Lira seit Tagen ab. Neben dem Einfluss der US-Wahl auf die Währung belastet die politische Unsicherheit seit demPutschversuch vom 15. Julidie türkische Wirtschaft. Die Türkei geht massiv gegen mutmaßliche Putschisten, aber auch gegen Regierungskritiker vor. Nach Medienangaben sitzen mehr als 36.000 Menschen in Untersuchungshaft. Mehr als 75.000 zivile Staatsbedienstete und Angehörige der Sicherheitskräfte wurden entlassen.

Türkische Oppositionelle wie der ehemalige Chefredakteur der Zeitung Cumhuriyet, Can Dündar, betonen, dass Europa Druck auf Erdogan ausüben kann, genau weil das Land Beitrittskandidat ist. Anfang November sagte er der Deutschen Presse-Agentur: "Die Europäische Union hat großen Einfluss, sie muss es nur wollen."

Drohungen aus der Türkei lösen einmal mehr Sorgen in der EU aus. Kann Präsident Recep Tayyip Erdogan quasi auf Knopfdruck eine neue Flüchtlingskrise in Gang setzen? Fragen und Antworten:

Worum geht es bei der Drohung?

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan reagiert auf die Empfehlung des EU-Parlaments, die Beitrittsgespräche mit der Türkei einzufrieren. "Passt auf, wenn Ihr noch weitergeht, dann werden diese Grenzübergänge geöffnet. Lasst Euch das gesagt sein", sagte Erdogan am Freitag an die Adresse der EU. Am Vortag hatte das Europaparlament empfohlen, die EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei einzufrieren.

Was würde passieren, wenn Erdogan die Grenzübergänge wirklich öffnet?

In dem für die EU ungünstigsten Fall würden wieder deutlich mehr Migranten die lebensgefährliche Überfahrt von der türkischen Küste in Richtung Griechenland wagen. Es könnte neue Bootsunglücke und vielleicht sogar eine neue schwere Flüchtlingskrise in Griechenland geben. "Erdogans Polizei braucht nur mit dem Auge in Richtung Schleuserbanden zu zwinkern und der Flüchtlingszustrom würde in vollem Umfang wieder starten", befürchtet man in Athen, wo man bereits heute kaum mit der Versorgung von rund 60.000 Migranten hinterherkommt.

Gibt es auch ein weniger drastisches Szenario?

Ja. Unter Migranten hat sich herumgesprochen, dass beliebte Asylländer wie Deutschland oder Schweden über Griechenland und die Balkanroute kaum noch zu erreichen sind. Für diejenigen, die in ein bestimmtes Land in Mittel- oder Nordeuropa wollen, hat es daher kaum noch Sinn, die Überfahrt von der Türkei auf die griechischen Inseln zu wagen. Eventuell würde sich an der aktuellen Situation also gar nicht viel ändern.

Was bedeutet das alles für Deutschland und die deutsche Bundesregierung?

Zunächst einmal, dass kein Flüchtlingszustrom zu befürchten ist, der mit dem im vergangenen Jahr vergleichbar wäre. Für die Bundesregierung wäre ein Scheitern der bisherigen Zusammenarbeit mit der Türkei dennoch eine schmerzliche Niederlage. Sie hatte bei der Lösung der Flüchtlingskrise sehr stark auf die Türkei gesetzt und immer wieder kritisiert, dass Staaten an der Balkanroute einfach ihre Grenzen geschlossen und damit einen Großteil der Last auf Griechenland abgeschoben haben.

Wie ernst wird die Drohung in Brüssel genommen?

Die EU-Kommission und Diplomaten versuchen, Panikmache zu vermeiden. Wenn man wegen jeder Drohung aus Ankara ein Krisentreffen einberufen würde, hätte man für nichts mehr anderes Zeit, heißt es. Zudem wird betont, dass ein Aussetzen der EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei derzeit gar nicht auf der Tagesordnung steht. Das Votum des EU-Parlaments am Donnerstag hatte lediglich symbolische Bedeutung. Über ein Aussetzen der Beitrittsgespräche müssten die Mitgliedstaaten entscheiden, die bisher nicht einmal offiziell darüber diskutieren wollten. Lediglich die Wiedereinführung der Todesstrafe gilt als echte "rote Linie".

Wie wahrscheinlich ist, dass die Türkei die Drohung wahr macht?

Das ist schwer zu sagen. Einerseits fühlt sich die Türkei von der EU schon lange hingehalten, vor allem beim Thema Beitrittsverhandlungen und Visafreiheit. Andererseits hat die türkische Führung ihren Bürgern die Visafreiheit versprochen. Es ist auch nicht das erste Mal, dass die Türkei mit der Aufkündigung des Flüchtlingsabkommens droht. Außenminister Mevlüt Cavusoglu hatte erst vor wenigen Wochen ein Entgegenkommen im Streit um die Visafreiheit gefordert. Sonst werde man das Abkommen beenden.

Dass die Türkei oft droht, aber selten handelt, hat vermutlich einen strategischen Hintergrund: Für die Regierung wäre es nicht ohne Risiko, den Flüchtlingspakt aufzukündigen. Sollte eine Grenzöffnung ohne dramatische Folgen bleiben, würde ihr künftig ein Hebel fehlen, um Europa unter Druck zu setzen.

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