Türkei: Erdogan verhängt Ausnahmezustand

Erdogan am 20. Juli 2016.
60.000 Soldaten, Polizisten, Richter und Lehrer bereits verhaftet oder suspendiert. Türkischer Präsident Erdogan kündigt weitere Verhaftungen an.

Recep Tayyip Erdogan hatte am Montag eine "wichtige Entscheidung" angekündigt, Mittwochabend hat er diese verlautbart: In der Türkei gilt nach dem Putschversuch für drei Monate der Ausnahmezustand. Das kündigte der türkische Präsident nach einer Sondersitzung des Nationalen Sicherheitsrates und des Kabinetts in Ankara an. Er erklärte, der versuchte Staatsstreich sei "vielleicht noch nicht vorbei", es könne "weitere Pläne geben".

Unter dem Ausnahmezustand kann Erdogan weitgehend per Dekret regieren. Grundrechte wie die Versammlungs- und die Pressefreiheit können nach dem Gesetz zum Ausnahmezustand ausgesetzt oder eingeschränkt werden.

Was in der türkischen Verfassung zum Ausnahmezustand steht lesen Sie im Abschnitt unten.

Weitere Verhaftungen folgen

Erdogan hat auch im Vorgehen gegen seinen Erzfeind Fethullah Gülen weitere Verhaftungen angekündigt. Es seien bereits zahlreiche Menschen in Gewahrsam genommen worden, sagte er am Mittwoch dem Sender Al Jazeera. "Wir sind aber noch nicht am Ende angekommen."

Seit dem Putschversuch vom Freitag wurden etwa 60.000 Soldaten, Polizisten, Beamte, Richter und Lehrer suspendiert oder verhaftet oder es wurden Ermittlungen gegen sie aufgenommen.

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Hunderte Bildungseinrichtungen zugesperrt

Die türkische Regierung schließt Hunderte Bildungseinrichtungen und geht damit massiv gegen ihren Erzfeind Fethullah Gülen vor. Ein Großteil dieser Einrichtung seien Privatschulen, sagte ein Vertreter des Bildungsministeriums am Mittwoch. Der in den USA lebende Gülen hat zahlreiche Privatschulen in dem Land gegründet.

Zudem wurden einem Medienbericht zufolge zwei Mitglieder des Verfassungsgerichts verhaftet. Die beiden seien zusammen mit 111 weiteren Justiz-Angehörigen formell festgenommen worden, berichtete der Privatsender NTV. Seit dem Putschversuch vom Freitag wurden etwa 60.000 Soldaten, Polizisten, Beamte, Richter und Lehrer suspendiert oder verhaftet oder es wurden Ermittlungen gegen sie aufgenommen.

Türkei: Erdogan verhängt Ausnahmezustand
Pro Erdogan supporters gather at Taksim square on July 20, 2016 during a rally in Istanbul, following the failed military coup attempt of July 15. Turkish President Recep Tayyip Erdogan on July 20 chaired a crunch security meeting for the first time since the failed coup, as global alarm grew over a widening purge that has seen around 50,000 people either detained or sacked. / AFP PHOTO / OZAN KOSE
Noch sei nicht klar, wie viele Personen genau sich an dem Putschversuch beteiligt hätten, sagte Erdogan. Klar sei aber, dass es sich um eine Minderheit innerhalb des Militärs gehandelt habe. "Die terroristische Organisation hat versucht, die Minderheit dazu zu bringen, die Mehrheit zu kontrollieren." Gülen und seine Anhänger bezeichnet Erdogan oft als "terroristische Organisation".

Regierung verbietet religiöse Beisetzungen für Putschisten

Bei dem vereitelten Militärputsch umgekommene Männer dürfen keine religiöse Bestattung bekommen, meldete der Fernsehsender CNN Türk am Mittwoch. Die türkische Regierung verbiete der ihr unterstellten Religionsbehörde Diyanet, dass Imame bei deren Begräbnissen teilnehmen.

Der Leiter der Religionsbehörde, Mehmet Görmez, habe gesagt, dass Putschisten nicht den "Freispruch und die Gebete" ihrer Glaubensgeschwister verdient hätten. Tote Soldaten, die zu der Teilnahme an der gescheiterten Revolte gezwungen worden seien, seien von der Anweisung nicht betroffen.

Keine Pension für Gülen

Nach dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei bekommt der von Präsident Recep Tayyip Erdogan als angeblicher Drahtzieher verantwortlich gemachte islamische Prediger Fethullah Gülen persönliche Konsequenzen zu spüren: Dem in den USA lebenden Gülen sei seine Rente aberkannt worden, meldete die amtliche Nachrichtenagentur Anadolu am Mittwoch.

In Richtung USA schlug Erdogan mildere Töne an. "Wir müssen feinfühliger sein", sagte er. Die Beziehung der beiden Länder sei auf Interessen aufgebaut, nicht Gefühlen. "Wir sind strategische Partner." Erdogan fordert von den USA die Auslieferung von Gülen. Der Prediger steckt seiner Ansicht nach hinter dem Aufstand.

Die türkische Verfassung gibt dem Kabinett unter Vorsitz des Staatspräsidenten das Recht, nach Beratungen mit dem Nationalen Sicherheitsrat den Ausnahmezustand zu verhängen. Auslöser können nach Artikel 120 "weit verbreitete Gewaltakte zur Zerstörung der freiheitlich-demokratischen Ordnung" oder ein "gravierender Verfall der öffentlichen Ordnung" sein.

Das Kabinett kann den Ausnahmezustand im ganzen Land oder in Teilen davon für maximal sechs Monaten verhängen. Der Beschluss muss im Amtsblatt veröffentlicht und ans Parlament übermittelt werden. Das Parlament kann die Dauer des Ausnahmezustands verändern, ihn aufheben oder ihn auf Bitte des Kabinetts um je vier Monate verlängern.

Während des Ausnahmezustands kann das Kabinett unter Vorsitz des Präsidenten Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen. Diese Erlasse werden zunächst im Amtsblatt veröffentlicht und am selben Tag dem Parlament zur Zustimmung vorgelegt. Gegen die Dekrete kann nicht vor dem Verfassungsgericht vorgegangen werden.

Während des Ausnahmezustands können nach Artikel 15 Grundrechte eingeschränkt oder ausgesetzt werden. Auch dürfen Maßnahmen ergriffen werden, die von den Garantien in der Verfassung abweichen. Voraussetzung ist allerdings, dass Verpflichtungen nach internationalem Recht nicht verletzt werden. Unverletzlich bleibt (außer bei rechtmäßigen Kriegshandlungen) das Recht auf Leben.

Niemand darf zudem gezwungen werden, seine Religionszugehörigkeit, sein Gewissen, seine Gedanken oder seine Meinung zu offenbaren, oder deswegen bestraft werden. Strafen dürfen nicht rückwirkend verhängt werden. Auch im Ausnahmezustand gilt die Unschuldsvermutung: Niemand ist schuldig, bevor ein Gericht ihn nicht verurteilt hat.

Der Ausnahmezustand kann auch bei Naturkatastrophen, gefährlichen Epidemien oder einer schweren Wirtschaftskrise verhängt werden. Er ist eine Stufe unter dem noch härteren Kriegsrecht.

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