Erdoğan "zerstört die Demokratie"

Neue Verfassung, die dem türkischen Staatschef fast alle Macht einräumt, nimmt erste Hürde. Kritik an autoritärem Kurs wächst.

Trotz wachsender Kritik aus dem Ausland zieht der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan seinen autoritären Kurs gnadenlos durch. Wobei er dabei eine doppelte Strategie anwendet: Durch Massenverhaftungen sollen die Opposition und die letzten verbliebenen kritischen Journalisten "mundtot" gemacht werden, wie der armenisch-türkische Autor Hayko Bagdat im KURIER-Gespräch sagte. Und auf der rechtlichen Ebene treibt der "Sultan" vom Bosporus eine Verfassungsänderung voran, die ihm weitreichende Machtbefugnisse einräumen soll.

In der Nacht auf Dienstag nahm das neue Grundgesetz die erste Hürde im Parlament. Die ersten beiden von insgesamt 21 Artikeln wurden von der Verfassungskommission angenommen. Die weiteren werden erwartungsgemäß ebenfalls bald durchgewunken. Dann ist das Plenum am Zug. Die notwendige Drei-Fünftel-Mehrheit dürfte Erdoğan schon in der Tasche haben, nachdem er die Abgeordneten der ultra-nationalistischen MHP auf seine Seite gebracht hat. Der Preis: ein hartes Vorgehen gegenüber den Kurden, das, so meinen manche, in einen Bürgerkrieg münden könnte. Im nächsten Frühjahr soll dann das Volk in einem Referendum über die Novellen abstimmen. Auch hier dürfte in der aktuell so nationalistisch aufgeheizten Stimmung ein klares Ja herauskommen.

Regieren per Dekret

Die neue Verfassung sieht die Abschaffung des Postens des Premierministers vor, Regierungschef wäre dann der Staatspräsident, der zumindest teilweise - unter Umgehung der gewählten Vertreter im Parlament - per Dekret die Linien vorgeben kann. Kritiker sehen darin den Versuch, den momentanen Ausnahmezustand, der nach dem Umsturzversuch vom 15. Juli verhängt worden war, zur Normalität zu machen. Auch der Budgetentwurf könnte künftig im Präsidentenpalast entstehen.

Diese Entwicklungen und die Tatsache, dass mehr als 100.000 Staatsdiener wegen vermeintlicher Kollaboration mit den Umstürzlern entlassen wurden, von denen noch Zehntausende im Gefängnis sitzen, lassen im Westen die Alarmglocken schrillen. Es sei verständlich, dass sich die Türkei gegen Putschisten und Terroristen wehre, sagte nun Thomas Oppermann, SPD-Fraktionsvorsitzender im Deutschen Bundestag. Was Erdoğan aber mache, gehe weit darüber hinaus. Der Staatspräsident habe einen zerstörerischen Prozess in Gang gesetzt: "Diese Willkür zerstört die Demokratie. Dazu darf Europa nicht schweigen."

Kurz für harten Kurs

Ein klares Signal in diese Richtung kam bisher lediglich vom Europa-Parlament. Dort haben die Abgeordneten mit großer Mehrheit in einer - nicht bindenden - Resolution gefordert, die EU-Beitrittsverhandlungen mit Ankara auf Eis zu legen. Genau dafür hat sich auch Österreichs Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) ausgesprochen, konnte sich bei seinen EU-Ressortkollegen aber nicht durchsetzen. Die Verhandlungen führt die EU-Kommission, die für einen weiteren Dialog eintritt.

Es ist vor allem der im März geschlossene Flüchtlingspakt, der maßgebliche EU-Politiker vor einer härteren Gangart gegenüber Erdoğan zurückschrecken lässt. Seit damals kommen deutlich weniger Migranten nach Europa. Doch der türkische Präsident drohte in der Vergangenheit immer wieder, die Abmachung aufzukündigen.

Fast 30 türkische Polizisten stehen in Istanbul seit Dienstag wegen ihrer angeblichen Verwicklung in den gescheiterten Militärputsch vom Juli vor Gericht. Den 29 Polizisten wird vorgeworfen, sich in der Putsch-Nacht vom 15. Juli der Anordnung zum Schutz des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan widersetzt zu haben.

Der Prozess im größten Gerichtssaal der Türkei in einem Gebäude gegenüber des Gefängnisses von Silivri am Stadtrand von Istanbul begann mit der Verlesung der Vorwürfe, wie die amtliche Nachrichtenagentur Anadolu meldete. Die ersten Verhandlungen sollen vier Tage lang dauern.

21 Angeklagten droht drei Mal lebenslänglich insbesondere wegen "Versuchs des Umsturzes der Verfassungsordnung" und "Versuchs des Sturzes der Regierung". Den acht anderen Polizisten drohen Haftstrafen von bis zu 15 Jahren wegen "Zugehörigkeit zu einer bewaffneten terroristischen Organisation".

Die islamisch-konservative Regierung der Türkei hält den islamischen Prediger Fethullah Gülen für den Drahtzieher des gescheiterten Militärputsches. Der im Exil in den USA lebende einstige Weggefährte von Präsident Erdogan bestreitet das jedoch entschieden.

Ankara geht seit dem Umsturzversuch mit aller Härte gegen Gülen-Anhänger und andere vermeintliche Regierungsgegner vor. Bisher wurden etwa 41.000 Menschen, darunter viele Polizisten, Soldaten und andere Staatsbedienstete, wegen angeblicher Unterstützung der Gülen-Bewegung festgenommen. Zehntausende weitere wurden aus dem Staatsdienst entlassen.

Der Prozess in Istanbul gegen die Polizisten ist der bisher größte im Zusammenhang mit dem Putschversuch. Kleinere Prozesse gab es bereits in anderen türkischen Städten.

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