"In seinen Augen war nichts, nur Wut"

Überlebende im Ausgehviertel des 10. Bezirks.
Ein Fußballspiel, ein Rockkonzert, ein Ausgehviertel. Was war passiert am Freitagabend im belebten Paris?

Soft Targets". So nennt das Militär Ziele, die nicht bewacht oder bewaffnet sind. Ziele, die niemanden, außer die Zivilgesellschaft treffen. Menschen, die nicht in Kriegen kämpfen, und Menschen, die nicht entscheiden, in welchem Krieg man interveniert.

Das Freundschaftsspiel im Stade de France, das Rockkonzert im Bataclan-Club, die Bars im 10. bzw. 11. Bezirk. Das waren Soft Targets. Sie wurden Ziele der tödlichsten Terrorattacke in der Geschichte Frankreichs. Sechs verschiedene Orte in der Metropole Paris wurden am Freitag fast zeitgleich angegriffen. Die offenbar koordinierten Anschläge begannen um kurz nach neun Uhr abends.

Rund um das Stade de France sind gegen 21.20 Uhr drei Explosionen zu hören und zu spüren (siehe Zusatzbericht).

Fast zur selben Zeit wird ein beliebtes Ausgehviertel zum Ziel der Terrorattacke:

In der Rue de la Fontaine au Roi bei der Place de la République werden auf der Terrasse der Pizzeria "La Casa Nostra" fünf Menschen getötet, ganz nahe, am Boulevard Voltaire, stirbt ein Mann durch Schüsse.

Etwas weiter nördlich kommt es zu Schüssen auf der Terrasse des Restaurants "Le Petit Cambodge" und beim Café "Le Carillon". Dort werden mindestens 14 Menschen getötet. "Ein Auto mit belgischer Nummerntafel fuhr vor", berichtet eine Anrainerin gegenüber Le Monde. "Ich habe den Beifahrer gesehen, ich würde sagen, er war sehr jung. Vielleicht 18 oder 20." Ein paar Minuten wurde geschossen. Nicht alle erkannten die Schüsse gleich als solche. Ein anderer Zeuge spricht von einem "Kriegsschauplatz": "Blut überall!"

In der Rue de Charonne etwas weiter östlich hören Augenzeugen zwei bis drei Minuten lang Schüsse. Mindestens 18 Menschen sterben in dieser Zeit. Schon von außen schossen sie durch die Fenster der Cafés, innen angekommen ging es weiter. Menschen liefen panisch in die hinteren Räume, versteckten sich unter Tischen, liefen aus den Bars in Hauseingänge. Nachbarn öffneten ihre Türen und Fenster für Flüchtende. Dennoch starben in dem Viertel am Freitag Dutzende Menschen.

"In seinen Augen war nichts, nur Wut"
"Wir waren etwas entfernt und haben Leute auf der Straße auf uns zulaufen gesehen", berichtet eine junge Frau, die mit ihren Freunden etwas trinken gehen wollte. "Wir drehten uns um und liefen mit ihnen." Viele trauten sich nicht nach Hause und blieben über Nacht bei Fremden oder in verschlossenen Bars. Unter dem Hashtag#porteouverte(offene Tür) bieten Pariser Schlafplätze an.

Blutjunge Täter

Nicht nur in den Bars der Innenstadt. Auch in dem nahe gelegenen Club Bataclan hätte es ein ausgelassener Abend werden sollen. Die US-Band "Eagles of Death Metal" stand gerade auf der Bühne – nachdem die junge Tiroler Band "White Miles" performt hatte – und spielte ihren sechsten Song. Auf einmal stürmen mehrere schwarz angezogene Männer die Halle. Sie haben Kalaschnikows mit, Sprengsätze und andere Waffen. Vermummt waren sie nicht, berichten Augenzeugen, und außerdem sehr jung.

"Die Typen sind gekommen und haben am Eingang begonnen zu schießen", sagt ein Konzertbesucher, der überlebt hat. Journalist Julien Pearce war selbst auf dem Konzert, als die Angreifer kamen. Einer stand direkt vor ihm: "Er war sehr jung. Vielleicht 20." Seine Augen seien leer gewesen: "Da war nichts. Nur Wut. Er war entschlossen zu töten. Und er hat gewusst, wie man es macht. So wie er die Waffe bedient hat, war es eindeutig, dass er es nicht zum ersten Mal macht." Pearce sah Menschen sterben. "Viele starben nur wenige Meter von mir entfernt, manche sogar auf mir."

"Auf alles und jeden geschossen"

Mit Maschinengewehren haben sie "auf alles und jeden geschossen", erzählen Augenzeugen. Manche sagen, dass die Angreifer "Allahu Akbar" gerufen hätten. Andere behaupten, sie seien bei den Tötungen ganz ruhig gewesen.

Panik. Wer konnte, rannte hinaus, manche hinter die Bühne. "Wir kletterten auf die Bühne und nach rechts hinter den Vorhang, weil wir dachten, dort sei ein Ausgang. Aber da war keiner. Dann mussten wir die Bühne überqueren, auf die andere Seite. Dort konnten wir raus", erzählte ein Jugendlicher der Zeitung Le Figaro von seiner Flucht.

Jene Überlebenden, die sich nicht ins Freie retten konnten, wurden als Geiseln genommen. Geschossen wurde weiter. "Wie Hinrichtungen", so Augenzeugen. Dazu sagten die Angreifer: "Euer Präsident Hollande ist schuld. Er darf in Syrien nicht eingreifen." Dann warfen die Angreifer Sprengsätze auf die Geiseln. Es ist längst klar, dass man mit ihnen nicht verhandeln kann. Sie wollen so viele Menschen wie möglich töten.

Von den oberen Rängen war es schwer, ins Freie zu gelangen. Manche retteten sich aufs Dach und wurden durch ein Dachfenster von Nachbarn gerettet. Andere stiegen aus dem Fenster des Clubs und hängten sich mit den Fingern ans Fensterbrett, um nicht von den Tätern von innen gesehen zu werden.

In einem nahe gelegenen Café wurde eine Art Lazarett eingerichtet. Einsatzkräfte konnten Menschen aus dem oberen Stockwerk der Konzerthalle retten und in dem Café verarzten. Wer unverletzt war, dem stand zumindest der Schock ins Gesicht geschrieben. Schwitzend und frierend, kreidebleich, weinend, nach Luft ringend saßen und standen die Menschen da, die sich in Sicherheit bringen konnten. Ihre Kleidung zum Teil blutüberströmt.

Die Ermittlungen in Richtung Terrorismus laufen bereits, als es laut Europe 1 kurz vor Mitternacht auch im Einkaufszentrum von Les Halles zu einer Schießerei kommt.

Jetzt – um halb eins – wird das Bataclan gestürmt. Drei Stunden nachdem die Angreifer hereingekommen waren. Der Einsatz der Anti-Terror-Einheit dauert nur zwei Minuten. Dabei sterben vier Terroristen. Drei davon ließen ihre Sprengstoffgürtel explodieren, einer wurde von der Polizei erschossen. Er soll jetzt als ein dem Geheimdienst bekannter Franzose identifiziert worden sein.

Später spricht die Polizei von rund hundert Toten im Bataclan. Hollande, Premier Manuel Valls, Innenminister Cazeneuve und Justizministerin Taubira treffen wenig später symbolträchtig vor der Konzerthalle ein. Hollande ruft einen „erbarmungslosen“ Kampf gegen den Terrorismus aus.

Die Zahl der Todesopfer ist mittlerweile auf 129 gestiegen. 352 Menschen wurden verletzt, 99 davon kämpfen laut dem Pariser Staatsanwalt ums Überleben. Ein Arzt fasst es zusammen: „Wir haben so viele Patienten bekommen. Wir haben versucht, einige davon zu retten. Es war eine schreckliche Nacht.“

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