Akute Bedrohung durch Rückkehrer

Terrorexperte: "Die Nachrichten über das Sterben des IS sind leider übertrieben."

Am Dienstagmorgen – wenige Stunden vor den Explosionen in Brüssel – warnte die belgische Zeitung Le Soir: "Die Verhaftung von Salah Abdeslam hat die Bedrohung nicht im Geringsten eliminiert. Ein neues Charlie Hebdo, ein neues Bataclan sind möglich."

Die Bedrohung war auch den belgischen Behörden bewusst. Verhindern konnten sie den Tod Dutzender Unschuldiger aber nicht. "Man wird Menschen, die entschlossen sind, solche Aktionen ohne Rücksicht auf das eigene Leben durchzuführen, nie stoppen können", sagt Islamismusexperte Rüdiger Lohlker zum KURIER.

Ein Zusammenhang mit der Verhaftung von Salah Abdeslam liege nahe, so der Experte. "Vielleicht hat das Terrornetz gefürchtet, dass es auffliegen würde." Abdeslam war in seinen Verhören bisher offenbar durchaus kooperativ und hat einiges ausgeplaudert. Er soll seinem Anwalt gesagt haben, er sei erleichtert, dass jetzt alles vorbei sei. Die Ermittler erfuhren von ihm, dass die Islamistenszene in Belgien größer ist als bisher gedacht. Es scheint, als sei die konzertierte Attacke von Dienstag lange vorbereitet worden, so Lohlke.

Akute Bedrohung durch Rückkehrer
epa05224533 A handout picture provided by the Belgium Federal Police on 21 March 2016, shows Najim Laachraoui, one of the suspects of the Paris terrorist attacks, on November 13th, 2015. Najim Laachraoui, formerly thought to be named Soufiane Kayal, has been identified as an accomplice of Salah Abdeslam, and was said to be using a fake Belgian Identity card by the name of Kayal, during the Paris attacks. EPA/BELGIUM FEDERAL POLICE/HANDOUT HANDOUT EDITORIAL USE ONLY/NO SALES
In Belgien halten sich laut OCAM (Belgische Analysestelle für Bedrohungen) derzeit 117 Syrien-Rückkehrer auf, die eine akute Bedrohung darstellen. 269 seien noch im Krieg, sechs seien auf dem Weg dorthin, 59 sind nicht bis nach Syrien gekommen. Ihnen allen gilt – spätestens seit den Terrorattacken in Paris im November – erhöhte Aufmerksamkeit des vielerseits als "schwach" und "lückenhaft" beschriebenen belgischen Geheimdienstes. Demnächst soll es möglich sein, sie präventiv in Beugehaft zu nehmen.

"Triumph von Daesh"

Ja, man habe vorher gewusst, dass ein Anschlag geplant sei, aber eine genauere Überwachung würde die "totale Kontrolle" bedeuten, so Lohlke. Die Behörden versuchen ohnehin im Anti-Terror-Einsatz einen schwierigen "Spagat zwischen Sicherheit und Freiheit". Die belgischen Medien – respektive Le Soir – kommentieren das so: "Wir trauern um den Verlust von Freiheit, den dieser Kampf gegen den Terror mit sich bringt. Das ist der große Triumph der Terroristen von Daesh (Bezeichnung für IS, Anm.)."

Der IS ist in Syrien und dem Irak zurückgedrängt. Und er hat auch in der Vergangenheit schon auf Niederlagen mit Anschlägen reagiert. "Der IS hat bewiesen, dass er in der Lage ist, seine Strategien zu wechseln. Von der Verteidigung von festen Gebieten wieder zurück auf die Guerilla-Taktik", erklärt Lohlker dem KURIER.

Die Terrorgruppe lege sich das Narrativ für ihren Nutzen zurecht: "Die verfolgen Muslime – und wir sind die Einzigen, die sich wehren." Auf einen neuerlichen Anschlag folgt die weitere Marginalisierung der Muslime in Europa – und das spiele dem IS und seiner Argumentation in die Hände.

Genau davor warnte auch gestern der Aktivist Iyad El-Baghdadi mit einer tausendfach geteilten Einschätzung auf Twitter: Die Gefahr sei jetzt, in Schwarz und Weiß zu denken. "Die Beseitigung der Grauzone – unsere Zone der Koexistenz (zwischen Muslimen und Nichtmuslimen, Anm.) und die Schaffung einer Welt in Schwarz und Weiß wie die IS-Flagge: Das ist genau, was die wollen."

Alternatives Islambild

Am Dienstagabend wurde versucht, die akute Gefahr zu entschärfen. Rund 30 Verdächtige seien offenbar noch auf der Flucht gewesen, hieß es. Mittelfristig werde man versuchen müssen, den IS außerhalb Europas zu schwächen, so der Islamwissenschaftler. "Langfristig muss man sich eine Strategie überlegen, wie man gegen solche Ideen vorgehen kann." Es gehe um die Entwicklung eines alternativen Islambildes – pluralismus- und demokratiefähig. "Das ist eine inner-muslimische Angelegenheit."

"Die Nachrichten über das Sterben des IS sind leider übertrieben." Das werde nicht passieren. Auch wenn es diese Gruppe vielleicht irgendwann einmal nicht mehr gebe: "Personen und Ideen werden überwintern."

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