Die Terroristen hatten eigentlich ein anderes Ziel vor Augen gehabt: Im Juni 2016 wollten sie die Eröffnungsfeier zur Fußballeuropameisterschaft in Paris mit Hunderten Kilo Sprengstoff attackieren. Doch die überraschende Verhaftung von einem aus ihrer Gruppe in Brüssel durchkreuzte die Pläne der radikalen Islamisten.
Sie schlugen sofort zu: Zuerst um 7.58 Uhr des 22. März 2016 in der Abflughalle des Flughafens der belgischen Hauptstadt; wenige Sekunden später noch einmal. Eine dritte Bombe zündeten die Selbstmordattentäter des „Islamischen Staates“ bei der Abfahrt des U-Bahnzuges in der Metrostation Maelbeek.
32 Menschen starben, mehrere Hundert wurden verletzt beim schlimmsten Terrorattentat, das Belgien je erlebt hat.
Hinter kugelsicherer Glaswand
Am Montag hat in Brüssel der Prozess gegen die überlebenden Terroristen und ihre engsten Helfer begonnen. Neun junge Männer, fast alle in Belgien aufgewachsen, allesamt Anhänger der radikal-islamistischen Terrorgruppe „Islamischer Staat“ stehen hinter einer kugelsicheren Glaswand Richtern, Zeugen und Journalisten gegenüber.
Unter ihnen: Mohammed Abrini - "der Mann mit dem Hut": Zusammen mit den beiden anderen Attentätern hatte er sich damals zum Flughafen begeben. Doch er brachte seinen mit Sprengstoff gefüllten Koffer nicht zur Detonation, sondern verließ den Flughafen wieder fluchtartig. Auf Bildern vom Flughafen unmittelbar vor dem Attentat ist der junge Belgier mit marokkanischen Wurzeln neben den beiden Selbstmordattentätern mit einem Hut zu sehen.
Nur ein Platz bleibt leer: Der eigentliche Drahtzieher der Brüsseler Attentate, Usama Atar, soll 2017 bei einem Luftangriff in Syrien ums Leben gekommen sein.
Die größte Aufmerksamkeit dürfte sich auf Salah Abdeslam richten. Der marokkanisch-stämmige Franzose war bereits an den Terroranschlägen in Paris vom 13. November 2015 (Bataclan) beteiligt. Damals wurden 130 Menschen getötet. Im Juni erhielt er deswegen schon von einem französoschen Gericht eine lebenslängliche Gefängnisstrafe.
500 Seiten lange Anklageschrift
Wenn die Staatsanwaltschaft am Dienstag mit der Verlesung der Anklageschrift beginnt, wird sie nicht vor Donnerstag Abend damit fertig sein. 500 Seiten Text über minutiöse, über viele Monate gehende Vorbereitungen auf geplante und ausgeführte Terrorangriffe in Paris und Brüssel.
Eines ihrer Opfer war die 34-jährige Lehrerin Loubna El Bachiri. Die Mutter dreier kleiner Söhne saß genau in jenem Waggon, in dem der Selbstmordattentäter die Bombe zündete. Sechseinhalb Jahre später, sagt ihr Mann Mohamed, sei der Schmerz nicht weniger geworden. Dem Prozess wird er nicht folgen. „Ich muss mich schützen, ich weiß nicht, was dieser Prozess wieder in mir auslösen würde. Und meine drei Kinder brauchen meine ganze Stärke.“
Der Körper in Flammen
Auch Karen Northshield möchte dem Verfahren fern bleiben. Die 32-jährige Belgierin mit amerikanischen Wurzeln stand in der Abflughalle, als unmittelbar neben ihr ein Attentäter die Bombe zündete. „Jede Sekunde danach war eine Ewigkeit“ schildert sie der belgischen Tageszeitung Le Soir. „Der ganze Körper steht in Flammen. Die Augen brennen. Die Hüfte in Stücke zerfetzt, alles brennt, alles brennt ... wo sind die Helfer. Und man wartet einfach auf den Tod.“
Nur dank ihres extrem guten körperlichen Zustandes hat die ehemalige Profisportlerin überlebt. Monatelang schwebte sie zwischen Leben und Tod. Dreieinhalb Jahre war sie im Krankenhaus, musste 60 Operationen über sich ergehen lassen und bleibt bis heute schwerst versehrt. „Ich muss nicht genau wissen, warum es passiert ist“, sagt Karen Northshield zum Prozess. „Ich war dort. Ich erlebe alles jeden Tag wieder.“
Hoffen auf Gerechtigkeit
Viele Hinterbliebene der Anschläge aber sehen es anders. Sie hoffen auf Antworten – und Gerechtigkeit. Knapp tausend Nebenkläger sind beim Prozess zugelassen. Voraussichtlich wird das Verfahren bis kommenden Juni dauern.
Ein letztes Todesopfer forderten die Anschläge heuer im Mai. Eine junge Frau, die die Attentate in der U-Bahn überlebt hatte, konnte die Erinnerungen und das Trauma des Erlebten nicht mehr ertragen. Sie bat um - die in Belgien straffreie - Sterbehilfe. Sie wurde ihr wegen "nicht zu lindernder seelischen Leiden" gewährt.
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