Am Sonntag wurden 44.777 Neuinfektionen, beinahe so viele wie am Höhepunkt der zweiten Welle zum Jahreswechsel, 740 Spitalseinweisungen und 21 Tote berichtet. Englands Sieben-Tage-Inzidenz liegt bei 399; in ganz Großbritannien, wo die Zahl der Infektionen in der letzten Woche um 43 Prozent auf fast 317,000 stieg, bei 376.
Die Pandemie in England wird dabei immer mehr zur "Ping"-demie. Hunderttausende, am Wochenende auch der britische Premier Boris Johnson, werden von der englischen COVID-App wegen Kontakt mit Infizierten "angepingt" und zu 10 Tagen Quarantäne verdonnert.
In der Woche bis 7. Juli landeten so laut Guardian bis zu 1,6 Millionen Menschen in Selbstisolation.
Das droht Teile der Wirtschaft lahmzulegen. Die Supermarkt-Kette Iceland und Pub-Riese Green King müssen wegen Personalmangel bereits zeitweise Läden schließen; der Autohersteller Vauxhall hat eine Produktionsschicht gestrichen, und auch Rolls-Royce sagte, die Lage werde langsam "kritisch". Die Metropolitan-Linie der Londoner U-Bahn konnte am Samstag nicht laufen, und der Flughafen Heathrow und Zugsfirmen müssen mit weniger Personal auskommen.
Die oppositionelle Labour Partei warnte am Montag vor einem Tag des Chaos. "Heute wird sich nicht für alle wie der ‚Tag der Freiheit‘ anfühlen", twitterte Labours London-Bürgermeister Sadiq Khan, der die Maskenpflicht in den Öffis der Hauptstadt fortsetzt. Und Kritiker in Johnsons Konservativer Partei warnten wegen der vielen Quarantäne-Fälle vor einem Lockdown durch die Hintertür. Viele fordern, die COVID-App weniger sensibel einzustellen und Geimpfte mit Tests Selbstisolation vermeiden zu lassen.
Heftig ist auch die Debatte über die medizinischen Auswirkungen der Öffnung, mit der die Maskenpflicht, Abstandsregeln und Beschränkungen für Veranstaltungen fallen. Johnson setzt auf Eigenverantwortung und argumentiert, die hohe Impfquote habe die Verbindung zwischen Infektionen und Spitalseinweisungen und Todesfällen "geschwächt". Plus, das Risiko der Öffnung im Sommer sei geringer als im Herbst, wenn die Virus-Übertragung zunimmt. "Wenn wir es jetzt nicht tun, müssen wir uns fragen, wann wir es jemals tun", meinte Johnson.
Impf-Pflicht für Clubs
Ab Herbst will die Regierung in England allerdings verpflichtende Corona-Impfnachweise für Nachtklubs und andere Großveranstaltungen einführen. „Manche der größten Vergnügen und Möglichkeiten des Lebens werden zunehmend von Impfungen abhängig sein“, sagte Johnson am Montag. Bis Ende September hätten alle Erwachsenen in Großbritannien die Möglichkeit, sich vollständig gegen Corona impfen zu lassen.
Wissenschafter warnen aber, dass die Situation außer Kontrolle geraten und den Gesundheitsdient überlasten könnte. Außerdem könnten sich ohne Restriktionen leichter neue Corona-Mutanten bilden. Neuinfektionen in Großbritannien könnten laut Regierung bald 100.000 pro Tag erreichen. Neil Ferguson vom Imperial College London warnt, die Zahl könne sich sogar verdoppeln oder noch höher steigen.
"Auf den Intensivstationen in England sind 10 Prozent der Betten mit COVID-Fällen belegt", sagte Charlotte Summers von der Cambridge Universität der BBC. "Der Druck hat deutlich zugenommen." Labours Gesundheits-Sprecher Jonathan Ashworth kritisierte das "rücksichtslose" Vorgehen der Regierung. Johnson trete "aufs Gaspedal, während er die Sicherheitsgurte ablegt".
Engländer sind skeptisch
Die Financial Times sprach vom "Tag der Freiheit für das Virus" und vom "Tag der Kapitulation". Laut Daily Mail wollte Johnson am Montag in einer Rede "den Geist Winston Churchills beschwören und effektiv den Sieg über das Virus erklären". Stattdessen flehte er am Sonntag seine Landsleute auf Twitter an: "Bitte, bitte, bitte seid vorsichtig".
Johnson selbst befindet sich derzeit in Quarantäne, nachdem er Kontakt mit dem britischen Gesundheitsminister Sajid Javid hatte, der vor wenigen Tagen trotz Impfung positiv auf das Coronavirus getestet wurde.
Laut einer YouGov-Umfrage halten 55 Prozent der Engländer das Ende aller Corona-Restriktionen zum jetzigen Zeitpunkt für falsch, 31 Prozent für richtig. "Ich trage wie bisher Maske und halte Abstand", sagt etwa Emma, 37, dem KURIER. "Da Fallzahlen so stark zunehmen, bin ich lieber vorsichtig".
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