Verteidiger von Mariupol: "Feind ist uns 10 zu 1 überlegen"

Verteidiger von Mariupol: "Feind ist uns 10 zu 1 überlegen"
Die Lage in der Hafenstadt im Süden spitzt sich weiter zu. In anderen Regionen meldet die Ukraine massive russische Truppenaufmärsche.

Tag 55 im Krieg: Die Ukraine sieht sich im Osten des Landes mit einem massiven russischen Truppenaufmarsch konfrontiert. "Jetzt ist praktisch der gesamte kampfbereite Teil der russischen Armee auf dem Territorium unseres Staates und in den Grenzgebieten Russlands konzentriert", sagte Präsident Wolodimir Selenskij in der Nacht auf Mittwoch in einer Videobotschaft. 

Die russische Seite habe "fast alle und alles, was fähig ist, mit uns zu kämpfen, zusammengetrieben", sagte Selenskij. Er forderte erneut Waffen.

Die schwersten Kämpfe gibt es nach wie vor in der Hafenstadt Mariupol. Das russische Militär blockiere alle Versuche, humanitäre Korridore zu organisieren, klagte Selenskij. Bewohner der Stadt, die sich in den Händen russischer Einheiten befänden, versuche man zu "deportieren" oder in die russischen Truppen zu mobilisieren. Leider bekomme man keine Antworten auf den Vorschlag eines Austauschs, der es erlauben würde, Zivilisten und Verteidiger der Stadt zu retten. Nähere Angaben zu dem Austausch machte er nicht.

"10 zu 1 überlegen"

Am Vormittag teilte die ukrainische Vize-Premierministerin Iryna Wereschtschuk dann mit, man habe sich mit Russland auf die Einrichtung eines Fluchtkorridors für Frauen, Kinder und ältere Menschen aus Mariupol geeinigt. „Angesichts der katastrophalen humanitären Lage in Mariupol werden wir unsere Bemühungen heute darauf konzentrieren“, schrieb Wereschtschuk auf Facebook.

Unterdessen baten die in Mariupol verbliebenen Marineinfanteristen um eine Evakuierung in einen Drittstaat. "Der Feind ist uns 10 zu 1 überlegen", sagte der Kommandant der ukrainischen 36. Marineinfanteriebrigade, Serhij Wolyna, in einer kurzen Videobotschaft. "Wir appellieren an alle führenden Politiker der Welt, uns zu helfen."

Russland habe Vorteile in der Luft, bei der Artillerie, den Bodentruppen, bei Ausrüstung und Panzern. Die ukrainische Seite verteidige nur ein Objekt, das Stahlwerk Asowstal, wo sich außer Militärs noch Zivilisten befänden. Die Soldaten, mehr als 500 verwundete Kämpfer und Hunderte Zivilisten sollten per Helikopter oder Schiff evakuiert werden, sagte Wolyna dem Sender CNN. "Das ist unser Appell an die Welt. Das könnte der letzte Appell unseres Lebens sein."

Russland will die strategisch wichtige Hafenstadt komplett unter Kontrolle bringen und forderte Hunderte ukrainische Kämpfer in einem Stahlwerk am Dienstag noch einmal zur Kapitulation auf. Diese weigerten sich jedoch.

Verteidiger von Mariupol: "Feind ist uns 10 zu 1 überlegen"
Russia calls on troops in Mariupol steel plant to surrender

Das Asowstal-Gelände in Mariupol

Am Mittwoch berichtete das Asow-Regiment, dass das Stahlwerk durch schwere Bomben praktisch komplett zerstört worden sei und viele Menschen unter den Trümmern begraben worden seien. "Wir ziehen Menschen aus dem Schutt", sagte der Vizechef des Regiments, Swiatoslaw Palamar, laut der Nachrichtenagentur Ukrinform.

Er betonte, dass die Verteidiger "bis zur letzten Patrone" kämpfen werden. Zugleich rief er die Regierung auf, Zivilisten, Verwundete und Leichen aus der Stadt zu bringen.

Weiter großer Widerstand

Das britische Verteidigungsministerium teilte mit, dass die Ukraine zahlreiche Vorstöße russischer Truppen in der Ostukraine habe abwehren können. Wie es unter Berufung auf Geheimdienstinformationen hieß, werden die russischen Fortschritte durch das Gelände sowie logistische und technische Schwierigkeiten behindert. Dazu komme die Widerstandsfähigkeit der hochmotivierten ukrainischen Armee.

Der fortgesetzte Widerstand in Mariupol und wahllose Angriffe auf Zivilisten seien Hinweise darauf, dass Moskau seine Ziele nicht so schnell wie erhofft erreiche.

Ostoffensive: Ukraine wehrt sich

Nach Angaben aus europäischen Kreisen könnte die Stadt am Asowschen Meer innerhalb von Tagen fallen. "Ich befürchte, dass es schlimmer werden wird als in Butscha", so ein Insider. Nach der Einnahme Mariupols könnte Präsident Wladimir Putin am 9. Mai die Stadt für "befreit" erklären - an dem Tag, an dem in Russland die Kapitulation Nazi-Deutschlands gefeiert wird, hieß es weiter.

Das mittelfristige russische Ziel sei wohl, die Luhansk- und Donezk-Regionen im Donbass zu kontrollieren sowie eine Verbindung zwischen der Krim und dem Donbass herzustellen. Dies dürfte vier bis sechs Monate dauern. Der Konflikt könnte dann in eine Patt-Situationen münden. 

Im südukrainischen Gebiet Saporischja meldeten die Behörden am Mittwoch schwere Kämpfe um die Kleinstadt Polohy. "Die Männer halten die Verteidigungslinie, aber es läuft ein massiver Angriff des Gegners", erklärte Gebietsgouverneur Olexander Staruch. Auch aus dem südukrainischen Mykolajiw wurden laut dem Bürgermeister der Stadt mehrere Explosionen gemeldet. 

Im Gebiet Luhansk meldeten die pro-russischen Separatisten die Einnahme der Kleinstadt Kreminna. Diese sei "vollständig" unter Kontrolle der Einheiten der "Volksrepublik", teilte die Luhansker "Volksmiliz" auf Telegram mit. Laut der jüngsten Analyse des US-Kriegsforschungsinstituts ISW war der Vorstoß nach Kreminna die einzige russische Bodenoffensive binnen 24 Stunden, die "signifikante Fortschritte" gemacht habe.

Der ukrainische Generalstab teilte mit, dass im Donbass die Kleinstadt Marjinka wieder unter der Kontrolle Kiews sei.

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