Soziologin sieht nach Brexit "enorme Unsicherheit" in Nordirland
Die derzeitige Lage in Nordirland ist aus Sicht der Soziologin Katy Hayward von "enormer Unsicherheit" geprägt. "Die Unsicherheit ist rechtlich, politisch, wirtschaftlich und sozial, einfach an jeder Front" - und das hat viel mit dem Brexit zu tun. Die jüngsten Ausschreitungen haben jedoch vielfältige Gründe, wie die Konfliktforscherin von der Queen's University Belfast im Gespräch mit der APA ausführt.
"Wir wissen, dass Nordirland ein fragiler Ort ist, und jedes Jahr gibt es ernste Vorfälle, die uns zeigen, dass das kein normaler Ort mit einer normalen Politik ist." Der britische EU-Austritt habe den Rahmen jedoch nicht nur verändert, sondern "fast weggenommen": "Diese fragile Balance war möglich, denn wir wussten, dass sich Großbritannien und Irland weiter in die gleiche Richtung bewegen würden", erklärt die Expertin. "Wenn sich das Vereinigte Königreich und die Republik Irland bei allen Differenzen im selben rechtlichen Rahmen befinden, in derselben politischen und wirtschaftlichen Union, dann ist das für Nordirland, das so beeinflusst wird von Spannungen im britisch-irischen Verhältnis, wirklich nützlich."
Außerhalb dieses Rahmens jedoch "fühlen sich die Dinge nicht nur unsicherer an", es gebe auch ein stärkeres "Gefühl der Verletzlichkeit" bei den Menschen hinsichtlich dessen, wie der Friedensprozess längerfristig gemanagt werden könnte. "Man hat das Gefühl, dass ziemlich viel auf dem Spiel steht."
Beziehungen zwischen GB und EU wichtig
Es dürfe auch nicht unterschätzt werden, wie wichtig die Beziehung zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union für die Provinz sei, sagt Hayward. Denn der Eindruck, dass es sich nun um einen "kritischen Moment für Nordirland und einen kritischen Punkt für den Unionismus" handle, sei auch "durch die Bitterkeit im Verhältnis UK-EU und den Mangel an Vertrauen" verschärft worden.
Die Ursachen der jüngsten Krawalle, bei denen laut Medienberichten fast 90 Polizisten verletzt wurden, beschreibt die Soziologin als komplex. Sie spricht von einer "schrecklichen Kombination von Dingen": Es hätte immer sein können, dass das Vorgehen der Polizei etwa gegen eine kriminelle Bande "zu sehr örtlich begrenzten Tumulten führen" hätte können, sagt die Expertin. In diesem Fall komme aber "das spezielle weitere politische Umfeld" dazu, in dem Institutionen von Recht und Ordnung - "ob das nun die nordirische Regierung oder die britische Regierung oder die Polizei ist" - in mancherlei Hinsicht "als nicht vertrauenswürdig oder mangelhaft betrachtet werden, und das untergräbt die Bemühungen jener, die versuchen, für friedliche Demonstrationen einzutreten". Denn dann könnten die Menschen durch das Gefühl, dass die Union mit Großbritannien in Gefahr sei, mobilisiert werden.
Regierungschefin Arlene Foster von der Unionistenpartei DUP hatte Ende März den nordirischen Polizeipräsidenten zum Rücktritt aufgefordert, nachdem entschieden worden war, nicht gegen Mitglieder der nationalistischen Partei Sinn Fein vorzugehen, die im Vorjahr an einem Begräbnis eines früheren IRA-Mitglieds teilgenommen und dadurch möglicherweise Corona-Regeln missachtet hatten. Führungspersonen der Unionisten - wie Foster - hätten gesagt, dass der Polizeipräsident "nicht die Unterstützung ihrer Communities habe, was ziemlich negativ ist", meint Hayward. Denn auch wenn sie versucht hätten, zwischen der Polizei und dem Polizeipräsidenten zu unterscheiden, sei dies "eine sehr starke Feststellung eines mangelnden Vertrauens" in die polizeiliche Führung.
Kriminelle Organisationen nutzen Situation aus
Dazu komme, dass kriminelle Organisationen, von denen manche Verbindungen zu pro-britischen Loyalisten hätten, die unsichere politische Lage ausnützten, um Unruhe zu schüren. "Und dann gibt es auch noch den größeren Kontext, das Gefühl, dass die Unionisten unter großem Druck stehen und es nötig ist, jetzt einen Strich zu ziehen und so deutlich wie möglich die unionistischen Bedenken gegen das Nordirland-Protokoll zum Ausdruck zu bringen", wonach für die Provinz - anders als im Rest des Landes - weiter Bestimmungen von EU-Binnenmarkt und Zollunion gelten, was zu einer Warengrenze in der Irischen See führt.
Was die Atmosphäre "besonders nervenaufreibend" gemacht habe, sei das Gefühl, "dass es an jeder Front Veränderungen gibt, und die Menschen wissen nicht wirklich, wohin das führt", sagt Hayward. "Nationalisten generell wollen den Brexit nicht, aber sie glauben, er macht ein vereinigtes Irland wahrscheinlicher, und das ist in mancherlei Hinsicht ein gewisser Trost für sie. Während Loyalisten und Unionisten, selbst wenn sie den Brexit wollten, denken, dass die derzeitige Lage die Union des Vereinigten Königreichs eher schwächt als stärkt."
Sehr junge Menschen beteiligt
Auf die Frage, warum offenbar auch sehr junge Menschen an den jüngsten Ausschreitungen beteiligt waren - manche der Festgenommenen waren nicht älter als 13 oder 14 Jahre alt - sagt die Soziologin, die Frage sei eher: "Warum sollten sie es nicht tun?" Denn die Krawalle deuteten nicht zuletzt auch auf soziale Probleme hin. Eine mögliche Vorstrafe - vor der etwa Foster die Jugendlichen gewarnt hatte - mache manchen, die möglicherweise nicht viel Hoffnung für ihre Zukunft hätten, vielleicht keine allzugroßen Sorgen.
Viele der betroffenen Gegenden hätten während des Nordirland-Konflikts besonders gelitten, und viele Gebiete, die während der "Troubles" am stärksten sozial benachteiligt gewesen seien, seien auch heute noch die sozial schwächsten. Das sei zum Teil dem Konflikt geschuldet, zum Teil aber auch ein "Teufelskreis", so die Expertin. Nötig wäre aus ihrer Sicht mehr struktureller und kultureller Wandel. Dieselben Probleme seien auch in verarmten republikanischen Gegenden relevant, wo man sich Sorgen über republikanische Dissidenten mache. "Sie spiegeln einander gewissermaßen, das ist wirklich traurig."
Es sei natürlich gut, die gemeinsame nordirische Regierung mit Machtteilung zwischen den beiden Seiten zu haben. Weil sich aber "die Politik so sehr auf Unionisten und Nationalisten konzentriert, werden die fortdauernden Probleme, die nicht orange oder grün sind, sondern soziale Probleme, wirtschaftliche Probleme, nie in Angriff genommen, nicht ordentlich", kritisiert Hayward. "Und deshalb haben diese paramilitärischen Gruppen weiterhin Einfluss in diesen ärmsten Communities."
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