Soziologie-Jungstar Schultz: "Den Grünen fehlt eine Vision“
Der gebürtige Däne und Wahl-Pariser Nikolaj Schultz wird als Jungstar der Soziologie gefeiert und arbeitete bis zu dessen Tod eng mit dem legendären Philosophen und Soziologen Bruno Latour zusammen (siehe Infobox weiter unten).
Vergangenen November weilte Schultz auf Einladung von Klimastadtrat Jürgen Czernohorszky (SPÖ) in Wien und sprach im Zuge dessen mit dem KURIER über seine Arbeit, darüber, warum Umwelt- und Klimaschutz endlich als Kampf begriffen werden müssen und warum grüne Parteien den kulturellen Kampf der Ideen verlieren.
KURIER: In Ihrem ersten, gemeinsam mit Bruno Latour verfassten Buch schreiben Sie, dass uns die Natur nicht eint, sondern trennt. Was meinen Sie damit?
Nikolaj Schultz: In all meinen Arbeiten geht es irgendwie um die Konflikte und die Spaltungen, mit denen wir - individuell oder kollektiv - auf einem Planeten konfrontiert sind, dessen Bewohnbarkeit immer weiter abnimmt. Meine Großmutter, von der ich im neuen Buch erzähle, hat ihr Leben nach dem Krieg auf der Idee des Wohlstands, der Prosperität, der Freiheit aufgebaut, auch für ihre Kinder und ihre Enkel. Jetzt muss sie erkennen, dass diese Werte und deren Umsetzung ihre Nachkommen auf einer weniger bewohnbaren Erde gefangen halten. Das ist nur ein Beispiel, aber es zeigt, dass wir alle gespalten sind. Wir sind alle im Konflikt, sowohl mit uns selbst als auch mit unseren Familien, weil sie kein Fleisch essen oder weil sie Fleisch essen oder weil sie fliegen oder weil sie nicht fliegen.
Sie argumentieren auch, dass man diesen Konflikt nutzen muss.
Der Umweltschutz hat viele Jahre verloren, weil er nicht als Kampf begriffen wurde. Ich vereinfache die Dinge natürlich, aber 50 Jahre lang haben die Umweltschützer daran geglaubt, dass wir alle Hand in Hand unter der Flagge von Mutter Natur marschieren werden, sobald die Katastrophe nahe genug ist. Aber das ist nicht passiert. Fridays for Future, der Kampf gegen den Kohleabbau in Lützerath (siehe großes Bild), indigene Völker, die gegen die Enteignung ihrer Territorien kämpfen - überall ist die Lektion dieselbe: Diese Fragen vereinen uns nicht. Sie entzweien uns. Aber das ist auch das ungenutzte Potenzial der politischen Ökologie. Wie wir aus der Sozialgeschichte wissen, haben Konflikte, Kämpfe, Spaltungen ein viel größeres Mobilisierungspotenzial als Frieden. Frieden lässt die Menschen gähnen. Konflikte machen sie kampfbereit.
Shooting Star
Der gebürtige Däne und Wahl-Pariser Nikolaj Schultz (33) gilt wahlweise als „Nachwuchsstar“ (Die Zeit) und „Lichtgestalt“ (NZZ) der Soziologie.
Legendärer Mentor
Nach seinem Studium in Aalborg und Kopenhagen ging Schultz nach Paris, wo er der engste Mitarbeiter des mehrfach preisgekrönten Philosophen und Soziologen Bruno Latour wurde. Gemeinsam veröffentlichten sie kurz vor Latours Tod 2022 das Memorandum „Zur Entstehung einer ökologischen Klasse“.
Reise ins Anthropozän
Im vergangenen Jahr folgte Schultz' erste Solo-Veröffentlichung „Landkrank“. Anhand einer Reise auf die französische Mittelmeerinsel Porquerolles verhandelt Schultz das Leben im fortgeschrittenen Anthropozän und die inneren und äußeren Konflikte, die es mit sich bringt.
Einladung nach Wien
Im November eröffnete Schultz auf Einladung von Klimastadtrat Jürgen Czernohorszky (SPÖ) die Serie „Wien New Deal – Perspektiven für eine klimagerechte Zukunft“. Am 9. Mai spricht er in St. Pölten im Rahmen des „Tipping Time“-Festivals.
Sehen Sie das Potenzial, all diese unterschiedlichen Kämpfe und die Menschen, die sie führen, zu vereinen?
Das ist natürlich schwierig. Aber zumindest ist es möglich, eine gemeinsame Konfliktlinie zu definieren. Was wir als ökologische Kämpfe bezeichnen, sind sehr oft Kämpfe gegen die Praktiken und die zerstörerischen Folgen der Produktion. Das könnte die einigende Erzählung sein. Um eine starke politische Bewegung zu schaffen, muss man ideologische Arbeit leisten. Und ideologische Arbeit besteht unter anderem darin, ein starkes Narrativ zu schaffen. Man muss ein Wir, ein Sie und eine Richtung der Geschichte konstruieren. Das ist es, was wir in dem Buch versuchen.
Wir können also den Klimawandel nicht ohne „Degrowth“ bekämpfen, also ohne ein Wirtschaftssystem, das auf Wachstum verzichtet? Was ist mit grünem Wachstum?
Wenn ich mir die Erdsystemwissenschaft ansehe, gibt es niemanden, der sagt, dass wir uns aus der Misere herausproduzieren können. Es geht ja nicht nur um Treibhausgasemissionen, es geht auch um Biodiversität. Und aufgrund des Tempos, mit dem sich das Erdsystem verändert, sowie der Vielfalt der Probleme glaube ich, dass wir Wohlstand leider neu definieren müssen und das wird nicht unbedingt in einer ökonomisierten Sichtweise der Welt geschehen. Was wir schreiben, liegt ganz auf der Linie meines Helden Karl Polanyi..
..dem großen Wiener Ökonomen und Soziologen..
..der auch verstanden hat, dass es bei Klassenkämpfen oder kollektiven Kämpfen nicht nur darum geht, die Produktionsmittel zu übernehmen und einfach anders zu verteilen. Manchmal geht es auch grundsätzlich gegen die Ökonomisierung, gegen die Vermarktlichung von allem in der Welt. Die säkulare Religion der Wirtschaft, wie Polanyi sagen würde, hat unsere gesamte Denkweise übernommen. Zu welchem Preis? In der Beschleunigungsgesellschaft, wie ich sie nenne, brennen die Menschen aus und das Land brennt nieder. Daher sollten wir uns nicht schämen, die Produktion an sich zu hinterfragen.
Viele Ökonomen argumentieren, dass der Sozialstaat nicht mehr erhalten werden könnte, wüchse die Wirtschaft nicht mehr.
Es ist eine Frage der Umverteilung und es ist eine Frage eines längeren Denkhorizonts. Wirtschaftswachstum hört sich gut an, bedeutet aber eine Verschlechterung der Lebensqualität in der Welt. Ich mag den Begriff Degrowth auch nicht, aber das hat politische, affektive Gründe. In der Politik geht es sehr stark um Ästhetik, um die Tonalität von Begriffen. Wer würde jemals eine Partei wählen wollen, die gegen Wachstum ist? Das klingt furchtbar. Also sprechen Sie lieber über Wohlstand. Natürlich ist das Wort Wohlstand sehr stark wirtschaftlich konnotiert. Aber Wohlstand bedeutet, dass man ein gutes Leben hat. Es geht darum, dass man das Wasser trinken kann. Es geht darum, dass man die Luft atmen kann. Es geht darum, dass man Lebensmittel essen kann, die nicht verschmutzt sind.
Der Kapitalismus hat tiefe Spuren in unseren Gesellschaften hinterlassen. Das System in Frage zu stellen, macht vor allem Älteren - und das sind oft diejenigen an der Macht - Angst. Sehen Sie die Gefahr, eine potenzielle Mehrheit zu verlieren, wenn man das zu intensiv verfolgt?
Das ist eine gute Frage. Mir wurde erzählt, dass es ein Buch gibt mit dem Titel: Ändert sich nichts, ändert sich alles (von Katharina Rogenhofer, Anm.). Das ist eine gute Metapher. Ich sehe das so: Es gibt die Menschen, denen wir begreiflich machen können, dass sie heute in einer anderen Welt leben, mit einer anderen Notwendigkeit, den Planeten in das politische System einzubeziehen. Aber natürlich gibt es Menschen, die sich eine andere Welt nicht vorstellen können, entweder aufgrund wirtschaftlicher Interessen oder weil es in ihnen eine existenzielle Krise auslösen würde.
Was also tun?
Mein Argument wäre, dass wir offener für die Schaffung einer inklusiven ökologischen Klasse sind als zum Beispiel die Marxisten. Die waren nicht gut darin, Allianzen zu bilden. Sie wollten ethisch und moralisch recht haben. Was zur Folge hatte, dass sie absolut nichts ändern konnten.
Aber genau dieser moralische Zeigefinger wird auch an der Klimabewegung kritisiert. Niemand will gesagt bekommen, wie er oder sie sich verhalten soll.
Ich sehe das vor allem als Hauptproblem bei den grünen Parteien. Sie dachten, dass sie sich auf Moralismus und Fatalismus ausruhen könnten. Aber Moralismus ist langweilig und Panik ist ermüdend, das mobilisiert keine Menschen. Für etwas zu stimmen hat damit zu tun, für etwas stimmen zu wollen. Es hat vor allem mit einer Wahl im eigentlichen Sinn zu tun; mit dem Wunsch, eine Sache einer anderen vorzuziehen. Und wer würde jemals eine Partei wählen wollen, die man wählen muss, damit der Planet nicht stirbt? Oder die man aus moralischen Gründen wählen sollte, um zu beweisen, dass man kein schlechter Mensch ist?
Die Allerwenigsten.
Genau. Was ich damit sagen will, ist, dass sie sich nicht auf das eingelassen haben, was wir den kulturellen Kampf der Ideen nennen. Stellen Sie sich vor, die Welt geht unter und es läuft zur besten Sendezeit im Fernsehen. Waldbrände in Kanada. Überschwemmungen in Pakistan. Dürre am Horn von Afrika. Dann kommen vier Politiker auf die Bühne: ein Sozialist, ein Konservativer, ein Liberaler und ein Grüner. Man braucht ungefähr drei Minuten, um zu erkennen, dass keiner der drei Erstgenannten es schafft, eine Verbindung zwischen seiner Politik und der künftigen Bewohnbarkeit des Planeten herzustellen.
Aber was sie haben, ist ein ganzer Katalog, ein ganzes Universum von Ideen, von Begriffen, von Bildern, die ihren politischen Projekten positive Konnotationen verleihen und die die Menschen aufgrund der historischen, kulturellen, ästhetischen Konnotationen dieser Begriffe berühren. Der Sozialist mag von Gleichheit und Solidarität sprechen. Der Liberale spricht vielleicht von individueller Freiheit oder persönlicher Verantwortung. Der Konservative spricht vielleicht von der Nation oder dem Volk.
Und der Grüne?
Der Grüne kommt auf die Bühne, hat panische Angst vor dem Ende der Welt, und ist moralistisch, weil die Menschen das Ende der Welt nicht verstanden haben. Aber wie oft haben Sie schon erlebt, dass ein Grüner auf die Bühne kommt und Erzählungen oder Visionen anbietet, die seinen politischen Projekten eine positive Konnotation verleihen? Sehr, sehr selten. Stattdessen wirken sie rückwärtsgewandt und es hört sich so an, als ob jeder furchtbar wäre außer ihnen selbst. Sie haben diesen kulturellen Kampf nicht aufgenommen.
An verschiedensten Orten, auch in Wien, versucht man, die Menschen durch partizipative Politik mitzunehmen. Kann das etwas bewirken?
Ich halte das für sehr wichtig, wenn man dann auch darauf hört. Das ist ein guter Weg, um zu verstehen, wo die Menschen stehen, was sie denken und fühlen. Die Menschen sind viel klüger als man in der Politik manchmal denkt.
Trotz all der negativen Prognosen wirken Sie optimistisch.
Nun ja, wie heißt es so schön: Mit dem Kopf ist man Pessimist, mit dem Herzen Optimist. Ein totales Klischee, aber man kann nichts schreiben, wenn man keine Hoffnung hat. Wir haben 50 Jahre an potenziellen Klimaschutzmaßnahmen verloren. Aber wir leben auch in enorm interessanten Zeiten, denn wir sind die Generation - Sie, ich, die Kinder von heute -, die die Gesellschaft der Zukunft gestalten wird. Wir sind diejenigen, die zu den zivilisatorischen Prinzipien zurückkehren werden, nachdem wir sie verloren haben.
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