Mehr als 13.000 Menschen starben seit Beginn des Konflikts im Jahr 2014, darunter 152 Kinder. Erst vor wenigen Tagen hätte sich diese Zahl fast erhöht: „Eines unserer Kinder wurde von seinen Freunden eingeladen, im Wald mit ihnen zu spielen. Es hat abgelehnt, da wir aufgrund der Minengefahr stets davor warnen. Seine Freunde haben einen Sprengkörper gefunden – und wurden, als dieser explodierte, verwundet“, sagt Serhii Lukashov, Leiter der SOS-Kinderdörfer in der Ukraine, zum KURIER.
Seit 2012 ist die Organisation in Lugansk aktiv, unterhält ein Kinderdorf in der Stadt. Im April wird es aufgelöst – schweren Herzens, wie Lukashov sagt: „Wir sind auch nach 2014 geblieben, haben im vergangenen Jahr 73 Familien und insgesamt 762 Kinder betreut. Doch die Umstände haben sich geändert. Unsere Mitarbeiter spüren einen immer größeren Druck, die lokalen Machthaber weisen uns keine Kinder mehr zu. Wir sind hier nicht mehr willkommen.“
Momentan wird nach einem neuen Stützpunkt nahe der „Kontaktlinie“, aber im von Kiew kontrollierten Gebiet gesucht. Auch die Versorgungslage für die betreuten Familien soll sich nicht ändern. Ein Grund für den Abzug ist, dass SOS Kinderdorf fürchtet, zum Spielball zwischen der Kiewer Regierung und der „Volksrepublik Lugansk“ zu werden – und das ist für eine Organisation, die unparteiisch sein und bleiben will, ein großes Problem.
2021 wurden Nichtregierungsorganisationen sowohl von Kiew als auch von Lugansk mit Sanktionen belegt, Mitarbeiter kurzzeitig festgesetzt. Auch wenn SOS Kinderdorf davon nicht betroffen war und ist, steigt der Druck.
Derzeit bereiten Lukashov und sein Team Care-Pakete für die Familien vor, sollte es tatsächlich zum Ernstfall kommen. Auf eine Flucht würden sich aktuell aber nur wenige vorbereiten. „Es herrscht eine eigenartige Stimmung. Die Menschen sagen ,Es gibt ständig Schüsse, Gerüchte, Angst. Das ist alles schrecklich, aber wir können nicht immer in Panik geraten.’ Sie leben schon ziemlich lange in diesem Zustand“, erzählt Lukashov. „Sie mussten sich eine dicke Haut zulegen, um weitermachen zu können.“ Laut ihm ist diese Haltung notwendig, um den Alltag im Krisengebiet irgendwie bewältigen zu können.
Eine Haltung, die Oleksii Gelyukh Sorgen bereitet. Er arbeitet seit bald zehn Jahren als Psychologe im Kinderdorf von Lugansk und spricht von einer drastischen Verschlechterung der seelischen Zustände seiner Schützlinge: „Nicht zuletzt wegen der Corona-Situation fühlen sich viele machtlos und ängstlich, was wiederum zu Wut, zu Aggressionen führt. Viele unserer Pflegekinder haben Traumata durch Gewalt und Verluste im Krieg erfahren – was sich wiederum negativ auf ihr Verhalten gegenüber Erwachsenen auswirkt“, sagt er.
Ein großes Problem sei, dass in den Familien Konflikte und negative Gefühle verdrängt und unterdrückt würden. Gelyukh: „Vor allem wird auch Gewalt innerhalb der Familie verharmlost.“ Es melden sich immer mehr Familien, die psychologische Betreuung in Anspruch nehmen wollen.
Meist müssen Gelyukh und seine Mitarbeiter Kinder und Familien per Skype beraten. Auch das ist nicht immer möglich, da es vor allem in kleinen Dörfern und abgelegenen Gebieten keine Verbindung gibt. „Wenn es die Situation erlaubt, fahren wir hin, um von Angesicht zu Angesicht mit den Menschen zu sprechen. Allerdings unter strengen Sicherheitsvorkehrungen.“
Sollte der Konflikt tatsächlich eskalieren, wären in der Region 2,9 Millionen Menschen – darunter 430.000 Kinder – bedroht.
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