"Sorry World", jetzt kommt Johnson

Brexit-Betreiber Johnson ist der neue britische Chefdiplomat
Die Ernennung des Londoner Ex-Bürgermeisters zum Außenminister wird kritisch gesehen.

Die letzten Wochen waren alles andere als einfach für Boris Johnson. Einen guten Teil davon verbrachte er verschanzt in seinem Haus im Nord-Londoner Stadtteil Islington, der zu drei Viertel für einen britischen EU-Verbleib gestimmt hatte. Wo immer der passionierte Radfahrer sich öffentlich zeigte, hagelte es Buhrufe und Beschimpfungen.

Als er am Donnerstag als frisch bestellter britischer Außenminister von der versammelten Presse an seiner Haustür empfangen wurde, hing ein Papp-Schild mit der Aufschrift "Sorry World" ("Es tut uns leid, Welt") an seinem Gartenzaun. Im Falle dieses erprobten Meisters der Entwaffnung durch Selbstironie kann man sich nicht einmal sicher sein, ob er das Schild nicht selbst gemalt hat.

Ohne Plan

Wie immer Johnson die Brexit-Verhandlungen mit der EU und die Neuerfindung der britischen Außenpolitik nun angehen mag, einen Plan hat er dafür offensichtlich noch nicht. Das bewies vor drei Wochen sein konzeptloser Auftritt nach dem unerwarteten Sieg der eigenen Kampagne, gefolgt von einem verschämten, kurzfristigen Rückzug und ein paar seiner in optimistischen Gemeinplätzen gehaltenen Zeitungskolumnen.

Fürs erste wird er auch genug damit zu tun haben, einige verstimmte Gemüter zu versöhnen. Als etwa Barack Obama im April die britischen Wähler warnte, dass sich ihr Land außerhalb der EU in Sachen Handelsabkommen mit den USA "am Ende der Warteschlange" wiederfinden würde, beschuldigte Johnson den Präsidenten einer "angestammten Abneigung" gegen Großbritannien wegen seiner "teils kenianischen" Herkunft.

Boris Johnson in Zitaten

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London Mayor Boris Johnson takes part in a tug of
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Vote Leave campaign leader, Boris Johnson, deliver
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London Mayoral Conservative candidate Boris Johnso
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Britain's Conservative mayoral contender Boris Joh
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To match feature BRITAIN-LONDON/MAYOR
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Vorgestern Abend witzelte er wohlmeinend, die USA stünden bei ihm "ganz vorne in der Schlange." In seiner Annahme, dass die USA und der Rest der Welt sich nun bei Großbritannien anstellen würden, überschritt er prompt die feine Linie zwischen Großmut und Überheblichkeit.

Leser-Wettbewerb

Im Mai wiederum nahm Johnson an einem Leser-Wettbewerb teil, den das konservative Magazin The Spectator in Solidarität mit dem vom türkischen Präsidenten Erdogan wegen Ehrenbeleidigung verklagten, deutschen Comedian Jan Böhmermann abhielt. Gesucht war ein Schmähgedicht nach Böhmermanns Vorbild, und Johnsons Limerick, der den Stadtnamen Ankara mit einem an Erdogan gerichteten Slang-Ausdruck für Onanisten reimte, wurde feierlich zum Sieger erklärt.

Bananen-Krümmung

In Brüssel wiederum hat sich Johnson schon seit einem Vierteljahrhundert viele Feinde gemacht. Damals prägte er als Korrespondent des Daily Telegraph durch Erfindung bis heute gängiger EU-Mythen über Normen für Bananen-Krümmungen oder Kondomgrößen genau jenes Zerrbild der EU, von dem sich britische Wähler mit dem Brexit zu befreien glaubten. Briten mögen Johnson seinen Hang zur Unwahrheit vergeben, schließlich gilt er als gewitzter Charmeur, aber die Übersetzbarkeit seines Humors hält sich in Grenzen.

Es gibt nur einen Grund, warum Regierungschefin Theresa May gerade in einem Moment größter außenpolitischer Unsicherheit einem Mann mit derart dubiosen Qualitäten die diplomatischen Geschicke Großbritanniens überlässt: Als Signal an die Brexit-Fraktion, die der Cameron-Loyalistin nicht über den Weg traut.

Sie folgt damit der Tradition ihres Vorgängers, der verhängnisvolle außenpolitische Schritte wie den Austritt der britischen Konservativen aus der Europäischen Volkspartei bzw. das EU-Referendum selbst aus parteiinternen Gründen vornahm. Das nun auf sich allein gestellte Großbritannien kann sich solche Spiele aber nicht mehr leisten. Die Kür Boris Johnsons könnte Theresa Mays erster großer Fehler sein.

Sebastian Kurz kennt Boris Johnson noch nicht persönlich, das wird sich aber bald ändern: Entweder sie treffen einander am Montag beim EU-Außenministerrat in Brüssel – allerdings wollen die Briten offiziell noch nicht sagen, ob Johnson kommt –, oder die beiden Außenminister kommen bei der Anti-IS-Koalition auf Einladung von John Kerry am 21. Juli in Washington DC zusammen.

"Sorry World", jetzt kommt Johnson
Die Erwartungen von Kurz an Johnson sind allgemein: Er will, dass die neue Regierung "eine konstruktive Rolle einnimmt und die Austrittsverhandlungen nach Artikel 50 so schnell wie möglich beginnen. Zu einem Rosinenpicken seitens Großbritanniens darf es dabei aber nicht kommen", sagte der Minister zum KURIER. Für Kurz steht fest: "Großbritannien wird auch nach dem Austritt ein wichtiger Partner für die EU bleiben, insbesondere wirtschaftlich."

"Jolly Joker" für Theresa May

In Brüsseler Diplomatenkreisen sind die Reaktionen auf Boris Johnson unterschiedlich. "Man muss den neuen britischen Chefdiplomaten einfach cool nehmen", sagt ein gelassener Kommissionsbeamter. Johnson sei "flexibel, ein Kosmopolit." Einige Gesprächspartner aus nordischen Ländern finden, dass Premierministerin Theresa May mit dem Kopf der Brexit-Bewegung eine "Allzweckwaffe" in Brüssel hat, eine Art "Jolly Joker, den sie beliebig einsetzen kann" – weil der britische Chefdiplomat eben keine fixe Haltung habe. "Chamäleon Boris Johnson wird uns das Leben schwer machen", fürchtet ein Brüssel-Insider. Außerdem haben manche Angst, dass er leichtfertig vertrauliche Gespräche in der Öffentlichkeit kundtun könnte.

Besonders kritisch hat sich nach der Bestellung von Boris Johnson der französische Außenminister Jean-Marc Ayrault geäußert: "Während der Kampagne hat er die Briten immer wieder angelogen – und jetzt steht er mit dem Rücken zur Wand. Ich brauche ein Gegenüber, mit dem ich verhandeln kann und der eindeutig glaubwürdig ist", sagte Ayrault im französischen Radiosender Europe 1.

Der Außenpolitische Sprecher der EVP-Fraktion, Elmar Brok, hofft, dass Johnson "soviel Verantwortungsgefühl aufbringt, die europäische Bühne nicht zu einer neuen Show-Darbietung zu nutzen, sondern seriös zu arbeiten". Und die Chefin der Grünen im Europa-Parlament, Rebecca Harms, weiß nicht ob sie lachen oder weinen soll. "Ich weiß nur, dass es nicht gut ist, wenn Verantwortungslosigkeit in der Politik belohnt wird."

(Margaretha Kopeinig)

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