Selenskij ein "Diktator"? Die vielen Falschaussagen in Trumps Verbalattacke

Im Wahlkampf hatte er diesen Kurs zwar mehrfach angekündigt, trotzdem ist es eine Zäsur, wie US-Präsident Donald Trump in den vergangenen Tagen öffentlich mit der Ukraine bricht - einem Staat, den die USA seit drei Jahren in seinem Verteidigungskrieg gegen die benachbarte Großmacht Russland unterstützen.
Nach seinem Telefonat mit Wladimir Putin in der Vorwoche und dem ersten Treffen hochrangiger russischer und US-amerikanischer Vertreter in Saudi-Arabien am Dienstag begann Trump, scharf gegen den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij zu schießen. Dieser sei "maßlos inkompetent" und habe den Krieg erst begonnen, so Trump am Dienstag.
Am Mittwoch nannte er Selenskij gar einen "Diktator", weil der seit 2019 keine Wahlen mehr stattfinden ließ. Im Zentrum stand die Aussage:
"Selenskij, ein mäßig erfolgreicher Komiker, hat die Vereinigten Staaten dazu überredet, 350 Milliarden Dollar auszugeben, um in einen Krieg zu ziehen, den er nicht gewinnen konnte."
Bei seinen Verbalattacken gegen Selenskij gab Trump eine ganze Reihe von Falschaussagen von sich - und übernahm derart viele russische Narrative, dass der Kreml in Moskau am Donnerstag erklärte: "Wir stimmen vollständig mit der amerikanischen Regierung überein".
Der KURIER stellt die wichtigsten Falschaussagen Trumps richtig:
Die Ukraine ist nicht in den Krieg gezogen, sondern wurde Ziel einer großflächigen russischen Invasion
Anders als von Trump behauptet, zog Selenskij nicht in den Krieg und brach ihn auch nicht vom Zaun. Sein Land wurde am 24. Februar 2022 zum Ziel einer großflächigen Invasion eines militärisch deutlich überlegenen Nachbarstaats.
Russische Panzer und Soldatentrupps fielen in etlichen Landesteilen entlang der Grenze ein, Elite-Einheiten landeten innerhalb weniger Stunden mithilfe von Helikoptern sogar im Großraum Kiews, um Selenskij zu töten. Den ukrainischen Streitkräften gelang es lediglich, diesen ersten Ansturm zu überstehen, was in weiterer Folge zum heutigen Abnützungskrieg führte.
Selenskij hat die USA nicht vor Kriegsbeginn überredet, Geld und Waffen zu liefern
Dementsprechend überredete weder Selenskij noch ein anderer ukrainischer Würdenträger die USA vorab, finanzielle oder militärische Hilfe zu leisten. Im Gegenteil: Die damalige US-Regierung um Präsident Joe Biden reagierte erst nach dem russischen Einmarsch und schickte zunächst nur Geld, später dann Waffensysteme.
Die USA haben weit weniger als 350 Milliarden Dollar für den Krieg in der Ukraine ausgegeben
Die von Trump in den Raum gestellte Zahl von 350 Milliarden Dollar an US-Finanzhilfen für die Ukraine ist falsch. In Wahrheit betragen alle seit Ausbruch des Krieges vom US-Kongress bewilligten Ausgaben zusammengerechnet ca. 183 Milliarden Dollar, wie die behördenübergreifende US-Aufsichtsbehörde auf ihrer Webseite ausweist.
In diese 183 Milliarden sind sogar Ausgaben mit eingerechnet, die gar nicht der Ukraine zugute kommen: 58 Milliarden gab das US-Militär für neue Waffensysteme aus, um jene zu ersetzen, die man an die Ukraine geliefert hat (Quelle: US-Verteidigungsministerium).
Die reinen US-Militärhilfen für die Ukraine belaufen sich demnach auf lediglich 65,9 Milliarden Dollar, weitere 3,9 Milliarden sind bereits genehmigt, aber noch nicht überwiesen worden. Der Großteil des restlichen Geldes beläuft sich auf Entwicklungshilfe, die von der US-Behörde USAID ausbezahlt wurde, die aktuell im Zentrum der Einsparungsmaßnahmen von Trumps Vertrautem Elon Musk steht.
Selenskij hat die Wahlen nicht ausgesetzt, er darf aufgrund des Kriegsrechts keine abhalten
Knapp drei Wochen nach Kriegsbeginn verhängte Selenskij am 14. März 2022 das Kriegsrecht, wodurch Regierung und Militär mehr rechtliche Freiheiten eingeräumt werden, um die ausländische Invasion zu bekämpfen. Das Kriegsrecht ist in der ukrainischen Verfassung verankert - ebenso wie die Tatsache, dass im Land keine Wahlen abzuhalten sind, solange es gilt.
Das heißt: Wenn Selenskij Wahlen abhalten wollen würde, müsste er die Verfassung ändern lassen oder das Kriegsrecht aufheben. Angesichts noch immer andauernder Kämpfe, bei denen die russische Armee momentan fast täglich vorrückt, ist das aber ausgeschlossen.
Selenskij ist kein Diktator, Putin erfüllt diese Definition dagegen schon
Entgegen Trumps Behauptung erfüllt Selenskij damit nicht die politikwissenschaftliche Definition eines Diktators. Er ist der legitim gewählte Staatschef eines Landes, das sich im Krieg und damit im demokratischen Ausnahmezustand befindet.
Die letzten ukrainischen Präsidentschaftswahlen 2019 wurden von unabhängigen, internationalen Wahlbeobachtern als frei und fair beurteilt. Dort holte Selenskij in der ersten Runde 30 Prozent der Stimmen, in der Stichwahl gegen den damals amtierenden Präsidenten Petro Poroschenko schließlich 73 Prozent.
Im Gegensatz dazu galten die letzten Wahlen in Russland allesamt als manipuliert. Im März des Vorjahres ließ sich Wladimir Putin zum insgesamt fünften Mal zum Präsidenten wählen, mit einem Stimmenanteil von 87 Prozent - übrigens auch in den von Russland besetzen Gebieten der Ukraine.
Oppositionsparteien werden in Russland seit Jahren unterdrückt, Kritiker des Präsidenten inhaftiert oder sogar im Ausland ermordet. Putin ließ sogar 2020 die russische Verfassung ändern, um sich selbst eine dritte aufeinanderfolgende Amtszeit zu erlauben. Dazu befeuert der 72-Jährige landesweit einen Personenkult um sich selbst.
Damit erfüllt der Kremlchef - im Gegensatz zu Selenskij - fast jede Eigenschaft eines Diktators.
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