Scholz: Energie bleibt lange teuer - Angst vor der "Zerreißprobe"
Deutschlands Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) geht davon aus, dass Maßnahmen gegen Energieknappheit auch über den kommenden Winter hinaus notwendig sein werden. In einer am Samstag veröffentlichten Videobotschaft sagte der Kanzler: "In diesen Tagen beschäftigt uns die Sicherheit unserer Energieversorgung. Sie wird es noch die nächsten Wochen, Monate und auch Jahre."
Es ist nicht die erste Warnung von Scholz in dieser Woche. Am vergangenen Montag hatte er die Bürger bereits auf eine lang anhaltende Krise mit hohen Preisen eingestimmt. Ähnlich äußerte sich auch Bundesnetzagentur-Chef Klaus Müller. "Auch wenn wir in keine Gasnotlage kommen, bleibt das Gas teuer", sagte Müller dem Nachrichtenmagazin "Focus". Dabei seien die Folgen der aktuellen Gasknappheit preislich bei den Verbrauchern noch gar nicht angekommen.
"Das kann für eine Familie schnell eine Mehrbelastung von 2000 bis 3000 Euro im Jahr bedeuten. Da ist die nächste Urlaubsreise oder die neue Waschmaschine dann oft nicht mehr drin." Deutschland drohe eine "Gasarmut".
"Sozialen Zerreißprobe"
Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, warnte vor einer "sozialen Zerreißprobe". Bewegungen wie die Gelbwesten in Frankreich seien auch in Deutschland möglich, sagte Fratzscher dem "Handelsblatt". "Die gegenwärtige Krise könnte der letzte Tropfen sein, der das Fass der zunehmenden sozialen Spaltung zum Überlaufen bringt." Der DIW-Chef forderte höhere Löhne und eine dauerhafte Anhebung der Sozialleistungen. Die Politik sollte nicht versuchen, "mit Placebos wie Einmalzahlungen Menschen ruhig zu stellen".
Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) sprach im Interview mit dem Deutschlandfunk ebenfalls von einer drohenden "Zerreißprobe". Sollte das "Albtraum-Szenario" einer Gas-Unterversorgung Realität werden, rechne er mit heftigen Debatten, sagte Habeck. "Das wird Deutschland vor eine Zerreißprobe stellen, die wir lange so nicht hatten", fügte er hinzu. "Das wird die gesellschaftliche Solidarität bis an die Grenze und wahrscheinlich darüber hinaus strapazieren."
Opposition
Habeck nahm auch für die Rettung des angeschlagenen Gas-Importeurs Uniper den finnischen Mehrheitsgesellschafter Fortum in die Pflicht. Man könne nicht sagen, nur weil Uniper jemandem anderen gehöre, halte man sich komplett raus, sagte der Grünen-Politiker dem Deutschlandfunk. Es gelte aber auch: "Es gehört ja jemandem, auch jemandem, der solvent ist und stützen kann. Und deswegen ist es richtig, sich Modelle zu überlegen, wo die Eigentümer ebenfalls in der Pflicht sind." Alleine eine abnehmende Kreditwürdigkeit des Unternehmens könne dazu führen, dass das Geld nicht ausreiche, um Gasmengen zur Verfügung zu stellen.
Linke-Parteichef Martin Schirdewan forderte im Gespräch mit der Funke Mediengruppe eine gezielte Unterstützung einkommensschwacher Haushalte mit einem "sozialen Klimabonus" von 125 Euro pro Monat plus 50 Euro für jedes weitere Haushaltsmitglied. Außerdem sprach er sich für eine Deckelung der Energiepreise aus, "damit die Leute im nächsten Winter noch heizen und Fernsehen gucken können". Finanziert werden solle dies durch eine Übergewinnsteuer.
Appellen zum Energiesparen erteilte Schirdewan eine Absage. "Ich rate den Leuten, nicht auf die Verzichtspropaganda hereinzufallen", sagte er. "Es kann nicht darum gehen, weniger zu heizen oder kälter zu duschen."
Netzagentur-Chef Müller erneuerte dagegen mit Blick auf eine drohende Mangellage in Herbst und Winter den Aufruf, Energie und damit Gas zu sparen. "Jede noch so kleine Maßnahme zählt", sagte er dem "Focus". "Ich verstehe, dass da manche jetzt drüber lachen. Wenn sie die nächste Gasrechnung bekommen, wird ihnen das Lachen aber vergehen."
Letzte Stufe: Bundesnetzagentur als Bundeslastverteiler
Sollte die Bundesregierung die dritte und letzte Stufe im Notfallplan Gas ausrufen, agiert die Bundesnetzagentur als Bundeslastverteiler - sie entscheidet also, wer wie viel Gas bekommt. Sogenannte geschützte Kunden, darunter auch private Haushalte, haben dann Vorrang. Viele Unternehmen, etwa in der Industrie, erhalten dann aber möglicherweise kein Gas mehr. "Wer nicht aus Solidarität oder im Sinne des Klimaschutzes Gas sparen will, sollte an die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes denken", sagte Müller.
Wartungsarbeiten
Verschärft wird die Debatte durch die Angst um ein Ende der Gaslieferungen aus Russland. Am Montag (11. Juli) sollen jährliche Wartungsarbeiten an der Ostseepipeline Nord Stream 1 beginnen, die in der Regel zehn Tage dauern. Die große Sorge ist, dass Russland nach der Wartung den Gashahn nicht wieder aufdreht.
Das wäre der "Supergau", sagte Peter Adrian, Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK), der Deutschen Presse-Agentur. "Viele Betriebe müssten ohne Gas-Bezug ihre Produktion einstellen. Wenn dieser Fall eintritt, dann befürchte ich ganz klar eine Rezession."
Hinzu käme das Problem von Engpässen, so Adrian weiter. Es gebe Firmen, die beispielsweise zur Herstellung von Schläuchen für Dialysegeräte Gas bräuchten. "Aus den bisherigen Informationen wissen diese Unternehmen nicht, was mit ihnen passiert. Aber wenn solchen Betrieben im Winter der Gashahn zugedreht wird, dann werden wir auch in der Gesundheitsversorgung sehr schnell Engpässe erleben. Es gibt Tausende solcher Beispiele, wo Wechselwirkungen oder mögliche Kettenreaktionen im Vorhinein nicht richtig bedacht werden können."
Langfristig unabhängig werden
Bundeskanzler Scholz betonte am Samstag in seiner Botschaft, die Bundesregierung habe bereits binnen kurzer Zeit viele Entscheidungen getroffen, damit Deutschland gut vorbereitet sei "auf Mangellagen, etwa wenn es um Gas geht". Er sagte: "Wir bauen Pipelines, Flüssiggasterminals. Wir sorgen dafür, dass eingespeichert wird in unsere Gasspeicher. Und wir sorgen dafür, dass jetzt Kohlekraftwerke genutzt werden, damit wir Gas sparen."
Auf lange Sicht werde es aber darum gehen, unabhängig zu werden vom Import von Öl, Kohle und Gas und den Anteil der erneuerbaren Energien auszubauen. "Das machen wir mit vielen Gesetzen, die gerade in dieser Woche beschlossen worden sind", sagte der Kanzler. Dies geschehe in einem Tempo, "wie es bisher noch nicht in Deutschland gesehen worden ist, und das ist notwendig".
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