Einarbeiten in die großen Streitthemen des Gipfels musste sich der Neo-Kanzler ohnehin nicht. Schon gar nicht angesichts Polens Frontalkurses gegenüber der EU: Warschau will künftig nationales Recht über Europa-Recht stellen, wo die polnische Regierung dies für notwendig hält. Eine noch nie da gewesene Erschütterung für die gesamte EU.
Zur Debatte stand gestern deshalb die Forderung nach massiven finanziellen Sanktionen für Polen. Die 36 Milliarden Euro, die Polen aus dem EU-Wiederaufbaufonds zustehen, sollen vorerst nicht an das Land ausgezahlt werden.
Nur ein einziger Verbündeter stand dem polnischen Premiers Mateusz Morawiecki gestern zur Seite. Ungarns Regierungschef Viktor Orbán ortete eine „Hexenjagd gegen Polen in Europa“.
Als ehemaliger Rechtsberater an Österreichs EU-Botschaft in Brüssel kennt Schallenberg die Rechtslage in der EU bestens, und entsprechend kritisiert er das Vorgehen Polens: „Die Grundwerte der Europäischen Union sind unverhandelbar“, betonte Schallenberg. "Es kann kein Werte-Rosinen-Picken geben."
Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts sei „ein Bauprinzip des Binnenmarktes. Hier gehen wir in die Eingeweide der europäischen Konstruktion hinein“, warnte der Kanzler. Dennoch sei wichtig: Die Debatte führen, den Dialog offen halten, Konfrontationen vermeiden
.„Einen kühlen Kopf bewahren“ – das riet Schallenberg auch beim zweiten großen Krisenthema des Gipfelabends, den extrem gestiegenen Gaspreisen in Europa.
Wie Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel sieht auch er den gewaltigen Preisanstieg als ein vorübergehendes Phänomen an, das spätestens im Frühling wieder verschwunden sein dürfte. Um die ärgsten Preissteigerung abzufedern, haben die EU-Staaten freie Hand für kurzfristige Maß nahmen bekommen.
„Aufgrund langfristiger Lieferverträge steht Österreich bei der Gasversorgung gut da“, sagte Schallenberg, „und zudem hat Österreich frühzeitig begonnen, auf erneuerbare Energien umzusteigen.“ Vorschnelles, massives Eingreifen in den Energiemarkt lehnt er deshalb ab.
Aus der Sicht der Atommacht Frankreich sind die exorbitant gestiegenen Preise aber geradezu ein Fanal, in Europa noch viel stärker auf Atomkraft zu setzen. Einmal mehr warb Präsident Emmanuel Macron beim Gipfel für Atomkraft als „nachhaltige Energieform“. Würde Nuklearenergie von der EU tatsächlich als „grün“ eingestuft, hieße das viele Milliarden an EU-Fördergeldern für Atomkraft.
Dagegen legen sich Österreich, Luxemburg und Deutschland kategorisch quer. „Atomkraft darf nicht durch die Hintertür salonfähig werden“, warnte Schallenberg.
Konkrete Beschlüsse wurden gestern nicht erwartet – ebenso wenig wie heute, wenn der Gipfel gleich ins nächste heiße Streitthema geht – die Migrationsfrage.
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