Samba de Janeiro setzt Brasilia zu
Einst kämpfte sie als Guerrillera gegen die damalige Militär-Diktatur (1964–1985), heute ist Dilma Rousseff selbst das Staatsoberhaupt Brasiliens – und aktuell mit einer Protestlawine konfrontiert, der sie offenbar nichts entgegenzusetzen hat. Denn längst geht es nicht mehr um die paar Eurocent mehr für die Bus-Tickets, die die Initialzündung für die Demonstrationen waren. Das ganze System steht auf dem Spiel.
In der Nacht zum Freitag drängten in mehr als 100 Städten eine Million Menschen auf die Straßen. Allein in der Küsten-Metropole Rio de Janeiro waren es 300.000, im wirtschaftlichen Zentrum des 190-Millionen-Einwohner-Landes, São Paulo, waren es mindestens 100.000. Im gleichnamigen Bundesstaat kam während einer Kundgebung in Campinas erstmals ein Aktivist ums Leben: Ein 18-jähriger Bursch wurde von einem Autolenker überfahren, der an einer Barrikade nicht Halt machen wollte. Damit hat die Bewegung ihren ersten „Märtyrer“ und könnte noch mehr Zulauf erfahren.
Parallele zu Istanbul
Es sind vor allem junge Leute, viele von ihnen aus der Mittelschicht, die sich erheben – gegen die enormen Kosten für die Fußball-WM 2014 (elf Milliarden Euro), gegen die Korruption, für mehr Mittel für den Gesundheits- sowie den Bildungsbereich. Und gegen die exorbitant gestiegenen Miet- und Lebensmittelpreise.
Laut einer Umfrage ist jeder Zweite der Demonstranten noch keine 25 Jahre, 84 Prozent stehen hinter keiner politischen Partei, und sieben von zehn nehmen das erste Mal überhaupt an politischen Manifestationen teil. Dieser Befund entspricht in etwa dem, den türkische Institute bei den Revolten auf und um den Istanbuler Taksim-Platz erhoben hatten. Auch dort mündete der Protest gegen ein überschaubares Bauprojekt schnell in eine Fundamental-Kritik an Premier Tayyip Erdogan.
„Dilma“, wie die brasilianische Staatspräsidentin von den meisten ihrer Landsleuten genannt wird, ist zwar (noch) nicht im Fokus der Revolte, sie hat immer noch tolle Beliebtheitswerte. Doch ihr fehlt das Charisma ihres Vorgängers Luiz Inacio Lula da Silva, unter dessen Präsidentschaft sie Kabinettschefin war. Dieser hatte – aus ärmsten Verhältnissen stammend – das Land auf einen wirtschaftlichen Erfolgskurs getrimmt – und durch seine Sozialprogramme Millionen aus dem Elend geführt.
Rousseff, 65, galt lange Zeit als „Lulas Mädl“, doch im Gegensatz zu „Kohls Mädl“ (die aktuelle deutsche Kanzlerin Angela Merkel) schaffte „Dilma“ noch nicht den Schritt aus dem Schatten des dem Caipirinha nicht abgeneigten Übervaters, dem im Übrigen nach wie vor Ambitionen auf das Amt des Staatsoberhauptes nachgesagt werden.
Am Mittwoch hatte sich die Staatspräsidentin mit ihrem Mentor getroffen. Doch der äußerte sich danach nicht zur schweren Krise in der siebentstärksten Wirtschaftsnation der Welt, die offenbar so tief geht, dass Rousseff eine lange geplante Reise nach Japan absagte.
Für die Tochter bulgarischer Einwanderer, die nicht nur erfolgreich die Militärdiktatur bekämpfte, sondern ab 2009 auch einen Lymphdrüsenkrebs, stellen die aktuellen Demonstrationen die bisher größte Herausforderung ihrer Amtszeit (seit 2011) dar. Zumal die ökonomischen Boomjahre vorbei sind und die Investoren ihr Geld wieder abziehen.
Dass die fußballverrückten Brasilianer ausgerechnet den Confederations Cup, die Generalprobe für die WM im kommenden Jahr, zum Anlass nehmen, um auf die Barrikaden zu steigen, muss für die Ex-Guerrillera ein Alarmzeichen sein.
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