Russland: Wie Nawalny Massen auf die Straße brachte
Sie skandierten „Wir sind die Macht“ und „Putin ist ein Lügner“. Bei eisigen Temperaturen demonstrierten am Samstag Zehntausende Russen für die Freilassung des Regimekritikers Alexej Nawalny. In 90 Städten von Wladiwostok bis Moskau. Unter den Tausenden Protestierenden in Moskau waren viele junge Leute und Angehörige der Mittelschicht. Aktivisten und Journalisten beklagten eine Drosselung des Internets. In sozialen Netzwerken kursierten Videos von Sicherheitskräften, die Demonstranten mit Schlagstöcken attackierten.
In Moskau griff die Polizei – wie angekündigt – hart durch. Prügel und Verhaftungen sollten die meist jungen Demonstranten einschüchtern. Hunderte wurden festgenommen, darunter auch Nawalnys Ehefrau Julia sowie seine engste Mitarbeiterin, die Juristin Ljubow Sobol. Julia Nawalny postete auf Instagram ein Foto aus einem Gefangenentransporter samt ironischer Bemerkung: „Entschuldigt die schlechte Qualität“, das Licht im Polizeiwagen sei sehr schlecht.
Wenige Stunden später wurde sie nach Medienberichten wieder freigelassen. Nawalnys Team veröffentlichte auch ein Foto von Nawalnys Mutter, die ebenfalls zur Demo gekommen war.
Alexej Nawalny hat Wladimir Putin bereits an empfindlicher Stelle getroffen und mit dem diese Woche veröffentlichten Video über Putins Geheimpalast mobilisiert. „Das ist das größte private Wohnhaus in Russland,“ sagt er im Video. „Die offiziell bestätigte Fläche beträgt 17.500 Quadratmeter. Es ist kaum mit etwas anderem zu vergleichen. Das ist eine echte Zarenresidenz.“ Mit eigener Kirche, Hubschrauberlandeplatz, Weinkelterei und Austernfarm.
Wichtigster Gefangener
Nawalnys Verhaftung macht ihn zum Märtyrer und zum wichtigsten politischen Gefangenen im Land. Und sein Video über Putins Geheimpalast am Schwarzen Meer ist diese Woche Thema Nummer eins in den sozialen Medien. Denn Putins Prunksucht wirkt fast schon lächerlich.
Putin behauptete stets, dass ihm sein lautstarker Kritiker, „der Blogger, den keiner braucht“, vollkommen egal sei. Und doch drehte er in dieser Woche fast täglich die Schrauben fester. Die Demonstrationen seien „illegal“, die Organisatoren „Provokateure“. Nawalnys Pressesprecherin wurde schon vor den Demonstrationen am Samstag verhaftet, ein enger Mitstreiter nach Weißrussland ausgewiesen. Nawalny, der im berüchtigten Moskauer Gefängnis „Matrosenruhe“ einsitzt, bekommt damit im In- und Ausland maximale Aufmerksamkeit.
Der 44-jährige Anwalt war nach seiner Rückkehr aus Deutschland nach Russland am Montag per Eilverfahren zu 30 Tagen Haft verurteilt worden. Ihm drohen viele Jahre Gefängnis und mehrere Prozesse. Der Kreml-Kritiker war im vergangenen August Opfer eines Giftanschlags geworden. Das Gift aus der Nowitschok-Gruppe, ein Nervengift, hätte ihn beinahe das Leben gekostet. Er wurde in der Berliner Charité gerettet. Und noch während seines Deutschlandaufenthalts blamierte er den Geheimdienst, indem er sich von einem niedereren Chargen am Telefon erzählen ließ, wie der Anschlag gelaufen war.
Die EU hat bereits Einreise- und Vermögenssperren gegen mutmaßliche Verantwortliche aus dem Umfeld von Präsident Wladimir Putin verhängt.
Kaum Hoffnung
Dennoch „ist die Hoffnung illusorisch, dass Putins Stuhl in den nächsten Wochen oder Monaten wackelt“, kommentierte Denis Trubetskoy für NTV aus Kiew. Allerdings wirke der „Zar“ hochgradig nervös, unter anderem auch deshalb, weil immer öfter Interna aus dem Kreml geleakt werden.
Putins Partei „Einiges Russland“ liegt bei Umfragen nur noch bei 30 Prozent. Mit dem Aufruf „Smart Votings“ („Klug wählen“) könnten dann unzufriedene Wähler für den aussichtsreichsten Kandidaten geworben werden, der nicht zu Putins Regierungspartei gehört. Diese Strategie von Nawalny führte in einigen Regionen bereits zu kleinen Erfolgen.
Deshalb setzt die russische Regierung nun alles daran, die Reichweite der Nawalny-Mitstreiter in den sozialen Medien zu reduzieren. Zuletzt forderte der Kreml vor allem von der Videoplattform TikTok, Werbung für den inhaftierten Oppositionspolitiker zu unterbinden.
„Wir ersuchen Sie unverzüglich, umfangreiche Maßnahmen zu ergreifen, um die Verbreitung solcher rechtswidriger Informationen auf TikTok zu verhindern“, heißt es in einer Mitteilung der Telekommunikationsaufsicht Roskomnadsor.
Wohnt wie Drogenbaron
Das Video über Putins Palast verbreitet sich derweil in ganz Russland rasant und sorgt für Empörung. Der Gebäudekomplex, der umgerechnet 1,1 Milliarden Euro gekostet hat, „sieht aus wie das Eigenheim irgendeines Drogenbarons in den Tropen“, twitterte etwa der oppositionelle Ilja Jaschin. „Aber nein, es ist der geheime Palast des russischen Präsidenten.“
Immer mehr junge Russen, die in Städten von einem besseren Leben träumen, sind schwer unzufrieden mit dem 68-jährigen Präsidenten auf Lebenszeit. Mit der Teilnahme bei den verbotenen Demonstrationen droht ihnen der Verlust des Studienplatzes oder des Jobs. Doch Nawalnys „Sendungsbewusstsein“, sagt Russland-Experte Gerhard Mangott von der Universität Innsbruck, wirke eben auf viele ansteckend. Auch in Minsk und Kiew.
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