Der russische Propagandakrieg läuft im Wohnzimmer
Auf der Straße rumpelt ein Panzer, daneben läuft schreiend ein Mann in Tarnkleidung. „Dawaj, dawaj“, also „gemma, gemma“ ruft er. Das Bild wackelt, es stammt von einer Helmkamera.
Das Video kursiert seit Montag in den russischen sozialen Netzwerken. Zeigen soll es jene fünf ukrainischen Soldaten, die angeblich die Grenze zu Russland überquert haben, also beim Nachbarn einmarschiert seien – und die das russische Militär daraufhin schnellstens „zerstört“ haben will.
Das wäre ein Grund für ein Einschreiten Moskaus in der Ukraine. Die Frage ist nur: Ist das wirklich passiert?
Seit Tagen mehren sich angebliche Beweise aus den selbsternannten „Volksrepubliken“ in der Ostukraine, die Kiew Beschuss, Attentate und Sabotageakte vorwerfen. Allein, viele sind gefälscht, teils sogar ziemlich plump, wie unabhängige Analysten meistens recht rasch feststellten.
Da gibt es etwa ein Video, das einen schreienden Mann mit abgerissenem Bein zeigt, ein angebliches Opfer ukrainischen Beschusses. Als er abtransportiert wird, sieht man allerdings, dass er bereits eine Prothese hat. Auch jene Videos, mit denen die Separatistenführer die Bevölkerung der Ostukraine am Freitag zur Massenevakuierung aufriefen, weil „die Lage heute eskaliert“ ist, wurden nicht angesichts einer aktuellen Bedrohung produziert, sondern zwei Tage zuvor. Wenig dienlich für den Beweis ihrer Echtheit ist auch, dass die Tochter eines der Separatistenchefs zeitgleich ein Partyvideo postete – aus Donezk.
Lange Tradition
Der Kreml hat seit Langem eine Liebe zur Desinformation, sowohl in westliche Richtung als auch im Inneren. „Lackierung der Wirklichkeit“ nannte man das in der UdSSR, und auch heute kann man die Propaganda täglich im staatlich kontrollierten TV verfolgen: Dmitrij Kiseljow, Generaldirektor der staatlichen Nachrichtenagentur Rossija Segodnja, erzählte kürzlich in seinem sonntäglichen Wochenrückblick von „Kindern, die von ukrainischen Soldaten an Strommasten aufgeknüpft werden.“ Das ganze Land sei einer „Massenpsychose“ verfallen, ausgelöst durch westliche Infiltration. Margarita Simonjan, seine Chefredakteurin, macht es noch emotionaler: „Sollen wir warten, bis die Ukraine Konzentrationslager baut und mit der Vergasung der Bevölkerung beginnt?“, fragte sie kürzlich unter Tränen.
Diese Art von Gräuelpropaganda sieht man derzeit auf allen Kanälen, und Simonjan ist dabei an vorderster Front. Auch auf Twitter hat die 41-Jährige offenbar Spaß daran, das Sprachrohr des Kreml zu spielen. Letztens postete sie eine Liste mit Daten – „Olympia 2008, Befreiung von Südossetien und Abchasien; Olympia 2014 – Rückholung der Krim; Olympia 2022 – schreiben Sie hier die korrekte Antwort.“
Bei der Bevölkerung kommt die Erzählung der Ukraine als Aggressor, der von ominösen Westmächten gestützt wird, als Staat ohne eigene Identität und Geschichte, dessen russischsprachige Bevölkerung Moskau retten müsse, trotz aller Ungereimtheiten an. Das liegt vor allem daran, dass kremlkritische Medien gegen die Übermacht des staatlich kontrollierten Systems aus Nachrichtenagenturen, TV-Sendern und Zeitungen, die teils sogar in gleichem Wortlaut berichten, nicht ankommen. Sie werden mit Klagen eingedeckt, bürokratische Anforderungen erschweren ihnen die Arbeit, zudem werden Finanzströme aus dem Ausland blockiert.
USA als Kriegstreiber
Die Bevölkerung sieht die Schuld an der derzeitigen Lage deshalb im Westen – für die Hälfte der Russen sind die NATO und die USA verantwortlich, hat eine Umfrage des unabhängigen Lewada-Zentrums jetzt ergeben. De Ukraine selbst geben 16 Prozent die Schuld, Russland sehen nur vier Prozent als Kriegstreiber.
Dazu passt, was Putin-Sprecher Dmitrij Peskow kürzlich zu einem möglichen Einmarsch in der Ukraine sagte: „Russland hat noch nie in seiner gesamten Geschichte ein anderes Land attackiert hat“, meinte er lapidar.
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