170 gestohlene Originale
Was sich in Tartu abspielte, erlebten auch die Bibliothekare in Berlin, Warschau, Paris oder Helsinki. 170 Bücher wurden mittlerweile laut Europol in elf Ländern gestohlen, und das Vorgehen der Diebe war fast immer gleich: Interessierte begutachteten Werke von russischen Klassikern „aus angeblich akademischem Interesse, maßen die Bücher sorgfältig aus und machten Fotos“, heißt es bei Europol. Zurück gaben sie dann Kopien von „außergewöhnlicher Qualität“, fast immer unbemerkt.
Wer hinter dieser Serie an Diebstählen steckt, darüber gibt Europol keine Auskunft. Zwar konnte man neun Täter verhaften, zumeist Georgier, doch die dürften nur kleine Fische sein. Vermutet wird, dass die Hintermänner in Moskau sitzen, und dass die Diebstähle eine geopolitische Komponente haben. Denn Puschkin, Gogol oder Lermontow sind in Russland nicht nur berühmte Dichter, sie sind Nationalheilige – und spätestens seit Putins Krieg Waffen der Politpropaganda.
Nationalheiligtum – und Putins Ikone
Das gilt vor allem für Alexandr Puschkin. Der große Dichter des 19. Jahrhunderts ist den Russen viel mehr als Shakespeare den Briten oder Goethe den Deutschen, er ist überlebensgroß. Auch, weil er dazu gemacht wurde: Er hat nicht nur Russisch zur Nationalsprache gemacht, das die verhasste Elitensprache Französisch ablöste, sondern er legte nach Lesart der Politik so auch den Grundstein zur "russischen Identität". Mit der begründet Putin auch seine Kriege: In den okkupierten Zonen wurden Plakate von ihm aufgehängt, Außenminister Lawrow untermalt seine Anti-West-Tiraden gern mit seinen Zitaten. Putin lässt den großen Dichter so zur Propagandawaffe verkommen.
Den Preis der Puschkin-Originale, von denen es wegen dessen kurzer Lebensdauer ohnehin nur wenige gibt, hat das aber massiv steigen lassen. Naheliegend wäre, dass die Werke darum in einer konzertierten Aktion gestohlen wurden – und das auch mit staatlicher Hilfe. Ein paar der Originalausgaben kamen kurz nach dem Diebstahl in Russland unter den Hammer, teils um mehr als 250.000 Euro. Dass sie so leicht über die Grenze kommen konnten, sei ohne Hilfe der Behörden schwer vorstellbar, sagte der polnische Puschkin-Experte Hieronim Grala der AFP. „Mir ist klar, dass die gesamte Aktion zentral von Russland aus organisiert wurde.“
Österreich ist gewarnt
Beweise für eine Beteiligung des Kreml gibt es aber nicht. Möglich scheint auch, dass findige Diebe die Situation einfach ausnutzten: Offizielle Verkäufe aus Europa nach Russland sind wegen der Sanktionen fast unmöglich, das lässt natürlich den Schattenmarkt wachsen. Und weil Putin Puschkin als Waffe einsetzt, steigt das Interesse von Sammlern - und damit die Preise.
In Österreich ist man deshalb gewarnt. „Wir wurden im Jänner vom Landeskriminalamt über die Diebstähle informiert“, sagt Johanna Rachinger, Generaldirektorin der Österreichischen Nationalbibliothek zum KURIER. Gestohlen sei in Wien aber nichts geworden, Stichproben hätten nichts ergeben.
Diebstähle in dieser Dimension habe die Nationalbibliothek jedenfalls noch nicht erlebt, sagt sie. Wird sie wohl auch nicht, denn laut Rachinger seien alle möglichen Sicherheitsvorkehrungen getroffen worden. Welche, sagt man freilich nicht. Ebenso wenig wie es eine Antwort darauf gibt, ob ein teures Puschkin-Original in den Beständen sei. Das wäre nämlich eine Einladung an die Diebe.
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