Wie aber könnten die möglichen Ausgänge aussehen?
Wenn Putin – und das ist derzeit der wahrscheinliche Ausgang – in diesem Krieg nicht das erreicht, was er will, dann könnte es mehrere Szenarien für Russland geben: eine Palastrevolution, eine schwere innere Auseinandersetzung bis zu einem Bürgerkrieg, einen eingefrorenen Konflikt über viele Jahre oder auch einen Zerfall des russischen Imperiums.
Dieser Ausgang mag zwar weit hergeholt wirken, aber schon 1991 nach dem Zerfall der Sowjetunion stand auch ein Zerfall Russlands im Raum. Es war die politische Kraftanstrengung Boris Jelzins, die das zuletzt verhindert hat. Ein für Russland verlorener Krieg könnte auch diesmal Zündfunke für einen Neuanfang sein. Wie 1905 nach dem russisch-japanischen Krieg, als Zar Nikolaus widerwillig ein Parlament einrichten ließ. Wenn das Pflänzchen der Demokratie auch nur kurz existierte, auch 1917 nach der Niederlage kam etwas Neues, in diesem Fall Schreckliches: die Herrschaft der Bolschewiki.
Was wären mögliche Strategien, um mit diesen Szenarien umzugehen?
Wenn es zu einer Palastrevolution kommt, also zu einem Umbau der Machtstrukturen in Moskau, dann wird Europa Ansprechpartner brauchen.
Das heißt, schon jetzt mögliche Andockstellen zu suchen, anstatt in eine Russophobie auszubrechen und russische Künstler und Wissenschafter zu sanktionieren. Wir brauchen bessere Kenntnisse über die gesellschaftlichen Bedingungen, über die Frontlinien eines möglichen inneren Konfliktes: sozial, ethnisch, religiös! Welche Politiker, welche Vertreter der Zivilgesellschaft werden an Bedeutung gewinnen? Sollten sich Teile Russlands von Moskau lossagen, fehlen uns derzeit wirtschaftliche, sicherheitspolitische und militärische Strategien: Stichwort Atomwaffen. Wie man es auch wendet: Russland bis zum Ural wird immer ein Teil Europas sein: mit seiner Kultur, Religion, seinen Menschen.
Gibt es in Russland dafür überhaupt die Gesellschaft?
Die russische Gesellschaft hat sich tiefgreifend verändert, auch unter Putin, der das ja auch lange zugelassen hat. Wenn heute junge, gut ausgebildete Menschen das Land verlassen, weil sie sich dem Einberufungsbefehl entziehen und mit dem Krieg nichts zu tun haben wollen, dann ist das auch ein Zeichen für wachsendes kritisches Denken.
Das Gleiche gilt für die Wissenschafter, Künstler oder Journalisten, die sich geweigert haben, Erklärungen, die den Krieg rechtfertigen, zu unterzeichnen. Es gibt also Ansätze einer Meinungsvielfalt, auch wenn die zuletzt unter Druck geraten ist. Die Menschen in Russland haben gespürt, was die Idee des demokratischen Westens bedeutet, und sie sind nicht ohne Weiteres bereit, diese Idee wieder sein zu lassen. Ich glaube, dass Putin eine europäische Idee für Russland hatte, und dass das Land etwa bis 2006 in diese Richtung ging. Ich erinnere mich an ein längeres Gespräch mit Putin in dieser Zeit, bei dem ich dabei war. Ich hatte den Eindruck, dass das ein Mann war, mit dem man politisch zusammenarbeiten könnte.
Wie aber soll Europa diese Entwicklungen fördern?
Indem wir die Gesprächskanäle nach Russland offen halten. Gerade die Arbeit von uns Wissenschaftern bietet da unzählige Möglichkeiten, aber natürlich auch die Diplomatie. Bilaterale Themen zwischen Österreich und Russland gab es und gibt es genug. Andere europäische Staaten nützen diese Möglichkeiten zur Kontaktpflege derzeit besser. Da gibt es Menschen, die wir als Brückenbauer brauchen, statt sie pauschal als Teil des Bösen abzutun. Wir müssen die bestehenden wissenschaftlichen Kontakte aufrecht halten, sie ruhig auch öffentlich pflegen, nicht nur hinter den Kulissen, auch um diesem einseitigen Bild von Russland etwas entgegenzusetzen.
Wo aber ist langfristig der Platz Russlands?
Eines sollte uns Europäern klar sein: Ein Europa ohne Russland ist nicht denkbar. Aber die Rolle dieses Russland sollten nicht andere Mächte definieren, sondern wir Europäer gemeinsam mit Russland. Wir müssen rasch anfangen weiterzudenken, anderswo tut man das längst. Sonst ist Europa in diesem riesigen Raum schon wieder einmal nur Zuschauer.
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