Russischer Deserteur: "Sie machten Leute zu Wilden"
Wenn die Ukraine am Mittwoch den Jahrestag ihrer Unabhängigkeit von der Sowjetunion begeht (offizielle Feiern sind aus Angst vor russischen Angriffen abgesagt), ist Putins Angriffskrieg auf das Land ein halbes Jahr alt. Pavel Filatiev diente in einer russischen Fallschirmjägereinheit, als der Kreml am 24. Februar den Befehl zum Angriff gab: „Es hat Wochen gebraucht, bis ich verstanden habe, dass es keinen Krieg auf russischem Boden gab und wir die Ukraine einfach überfallen haben“, schreibt der zum Deserteur und Flüchtling gewordene 33-Jährige in seinem Tagebuch, das er in einem russischen sozialen Netzwerk veröffentlichte.
Filatiev spricht von „Krieg“ – und widerspricht so der Direktive des Kreml. Auch seine Vorgesetzten kritisiert er: Die Kommandanten hätten sich nicht um ihre Untergebenen gekümmert. Das seien Männer, die sich für Pläne aufopferten, die sie selbst nicht einmal richtig kannten: „Sie haben die Leute zu Wilden gemacht“, schreibt Filatiev, der bei einem Angriff auf die südukrainische Stadt Mykolajiw eine Verletzung am Auge erlitt und von der Front abgezogen wurde.
„Unzufrieden mit Putin“
„Die meisten in der Armee sind unzufrieden mit dem, was dort passiert, sie sind unzufrieden mit der Regierung und ihren Kommandanten, sie sind unzufrieden mit Putin und seiner Politik, sie sind unzufrieden mit dem Verteidigungsminister, der nie in der Armee gedient hat“, stellt der Fallschirmjäger fest und beschreibt Plünderungen durch seine Kameraden, als sie die Stadt Cherson einnahmen: „Computer und andere wertvolle Gegenstände, derer sie habhaft werden konnten, wurden aus eroberten Häusern mitgenommen.“
Gleichzeitig ist Filatiev davon überzeugt, dass ukrainische Soldaten nicht anders gehandelt hätten: „Hat irgendjemand Zweifel daran, dass es auch in der ukrainischen Armee Leute gibt, die sich das Plündern nicht verkneifen konnten und es wie eine Trophäe betrachteten?“
Mängel auch bei Ukraine
Seine Schilderungen von den grausamen Erlebnissen in Schützengräben, über schlechtes Material und mangelnde Versorgung decken sich stark mit jenen ukrainischer Soldaten: Kämpfer eines Bataillons der 93. Brigade der ukrainischen Streitkräfte wandten sich kürzlich mit einem Videoappell an Präsident Wolodimir Selenskij: Sie seien bei Soledar im Donbass eingesetzt, hätten keine schweren Waffen, keine Artillerieunterstützung. Ständig gebe es Angriffe durch russische Artillerie, Luftwaffe und Panzer.
Eine große Anzahl an Toten sei zurückgelassen worden. Die Verwundeten würden nicht evakuiert werden – nur jene, die zu den zwei Kilometer entfernten Evakuierungspunkten gehen könnten, würden mitgenommen. Es ist die 31. ukrainische Einheit, die öffentlich auf die schlechte Versorgungslage aufmerksam macht.
Indes gelang den russischen Streitkräften vor Mykolajiw ein weiterer Geländegewinn. Sie rücken immer näher auf die Stadt vor.
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