Rücktritt: Nahles zieht die Notbremse
Sie wollte mit offenem Visier kämpfen. Nach der Wahlniederlage und öffentlichen Kritik an ihrer Person forderte sie ihre Gegner auf, zu kandidieren, wenn sie es besser könnten. Doch der offene Kampf um die Fraktionsspitze blieb aus. Vielleicht weil Andrea Nahles ahnte, dass sie ihn verlieren würde. Am Sonntag wurde es ein Mail an die Mitglieder. Der „notwendige Rückhalt“ sei nicht mehr vorhanden, schrieb die Fraktions- und Parteichefin der SPD und kündigte ihren Rückzug aus der Politik an.
So leise die politische Karriere endet, so laut könnte nun das darauffolgende Beben ausfallen. Als Nahles vor 14 Monaten übernahm und die SPD in die Koalition lotsen sollte, lag die Partei am Boden: Verstört vom historisch schlechten Ergebnis bei der Bundestagswahl 2017 und zerrissen in der Frage, ob sie wieder mit der Union regieren will oder nicht.
Bis heute sehen viele Genossen darin ihr großes Unglück: Trotz Erfolgen wie dem Mindestlohn und der Ehe für alle waren sie dezimiert aus der Wahl gegangen. Nahles musste intern um Stimmen werben. Die Versprechen: sozialdemokratische Akzente setzen, gutes Regieren wird belohnt, die Partei wird sich neben der Regierungsarbeit erneuern. Am Ende waren 66 Prozent dafür.
Abwärtsspirale
Heute wären es wohl weniger. Denn trotz sozialdemokratischer Handschrift in der Regierung (Rückkehrrecht in Vollzeit, bessere Bedingungen für Paketzusteller, das Gute-Kita-Gesetz) konnte sie die Abwärtsspirale nicht stoppen: Die SPD verlor bei den Wahlen in Bayern, Hessen, Bremen und zuletzt bei der Europawahl, wo sie von den Grünen erstmals von Platz zwei verdrängt wurden. Es braucht nicht viel Fantasie, um sich den Frust an der Basis auszumalen. Auch mit Blick auf Andrea Nahles.
Sie stehe für keinen Neuanfang, sei zu sehr in die Partei verästelt, monierten manche. Andere kritisierten ihre Auftritte und flapsigen Sprüche („Bätschi“). Als Parteichefin traf sie durchaus falsche Entscheidungen. Zum Beispiel, als sie der Versetzung des umstrittenen Verfassungsschutzchefs Hans-Georg Maaßen zustimmte und dann revidierte, weil es einer Beförderung glich. Ein letzter Wurf war ihr im Februar gelungen: Da verkündete sie die Abkehr von Hartz-IV – der umstrittenen Reform aus der Ära Schröder. Sie ließ zwar die Arbeitslosenzahl in Deutschland sinken, brachte aber viele Menschen in Minijobs. Zudem forderte sie mehr Geld für Rentner und Geringverdiener. Das sorgte intern und an der Basis für Applaus, schlug sich aber nicht in Zahlen nieder.
Denn das große Thema, das die Menschen derzeit bewegt, von dem die Grünen profitieren, hatte die SPD nicht am Schirm: den Klimaschutz. Noch jetzt sind die Sozialdemokraten hin- und hergerissen als Anwälte der Kohle-Kumpel und Antreiber eines Klimaschutzgesetzes.
Egal, wer auf Nahles folgt – Malu Dreyer, Ministerin aus Rheinland-Pfalz, könnte interimistisch SPD-Chefin werden –, wird sich eine Strategie überlegen müssen. Und steht in jedem Fall vor einem schweren Erbe: Die Partei will sich erneuern – beim Wie und Wohin ist sie in sich zerrissen. Dazu kommen die öffentlichen Querschüsse und Attacken von Parteikollegen oder Altvorderen, wie sie zuvor auch Martin Schulz und viele andere erlebt haben. Selbst Kevin Kühnert, Juso-Chef und erklärter Koalitionsgegner, schrieb via Twitter, dass er sich für den Umgang miteinander schäme. SPD-Fraktionsvize Karl Lauterbach sagte der Welt, bei den Angriffen auf Nahles aus den eigenen Reihen „hat auch Frauenfeindlichkeit eine Rolle gespielt“.
Es gibt also reichlich Gesprächsbedarf, wohl auch über Grundsätzliches: Wie stehen die Genossen nach den Wahlniederlagen weiter zur Großen Koalition?
Folgen für Merkel?
In der CDU ist man jedenfalls nervös. Sollte das Bündnis brechen, dürfe nicht der Eindruck entstehen, man sei dafür verantwortlich, lautete der Tenor. Annegret Kramp-Karrenbauer, kurz AKK, erklärte : „Wir stehen weiter zur Großen Koalition.“ Neuwahlen würden die CDU genauso kalt erwischen wie die SPD. Einerseits hat man beim Klimaschutz noch keine Linie gefunden. Andererseits hat es sich AKK zuletzt derart mit Aussagen verscherzt, dass Beobachter an ihrer Tauglichkeit als Kanzlerkandidatin zweifeln.
Apropos. Auch Angela Merkel ist alarmiert. Vor der Presse erklärte sie Sonntagabend, dass sie an der Koalition festhält und die Regierungsarbeit fortsetzen will. Zudem fand sie warme Worte für Nahles – „ein feiner Charakter“. Es ist bekannt, dass die beiden Politikerinnen gut miteinander konnten. Mit Nahles’ Rückzug bricht für Merkel eine Stütze der Koalition weg, die ihr politisches Ende einläuten könnte. Denn sollte es infolge der SPD-Krise noch zu Neuwahlen kommen, könnte AKK versuchen, nach der Macht zu greifen.
Vieles hängt nun von der SPD-Führung ab, ob sie ihre Bilanz zur Koalition vorzieht und sich dafür entscheidet, das Bündnis zu verlassen. Mit Blick auf die Zukunft ihrer Partei verabschiedete sich Andrea Nahles per Mail mit einem Appell, der sich wie eine Warnung liest: „Bleibt beieinander und handelt besonnen!“
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