Reportage aus Istanbul: Aufgegeben wird erst am Schluss

Noch vor dem offiziellen Ergebnis feiert ein Teil der Türken auf Istanbuls Straßen.
KURIER-Korrespondentin Veronika Hartmann verbrachte den Wahlabend in Istanbul.

Ungewöhnlich früh wurden die ersten Ergebnisse des Verfassungsreferendums um die Einführung einer Präsidialdemokratie in der Türkei am heutigen Sonntag von regierungstreuen Medien weitergegeben. Die ersten Hochrechnungen wiesen ein Traumergebnis von über 70 Prozent für das Ja-Lager aus. In den darauffolgenden Stunden purzelten die Werte und bis zuletzt hofften die Befürworter des Nein, dass auch die letzten, wenigen Prozentpunkte noch fallen würden und nicht nur in den großen Städten Izmir, Istanbul, Diyabakir und Ankara das Nein siegen würde, sondern türkeiweit.

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An diesem Abend in Istanbul konnte man die Anspannung direkt spüren. In jedem Geschäft und jedem Cafe liefen die Fernseher mit den Ergebnissen. Schweigend gruppierten sich die Menschen darum, während gleichzeitig arabische Touristen die Sonne genossen und sich von den politischen Umtrieben in der Türkei nicht ihre Shopping-Laune verderben ließen. Während die Sonne mit auf dem zentralen Taksim-Platz mit rötlichen Strahlen unterging, zeichnete sich bereits ab, dass das Referendum mit Ja ausgehen würde. Zwar knapp – aber auch ein kleiner Vorsprung reicht in diesem Falle aus.

In einer kleinen Sportsbar im Herzen von Beyoglu, dem einstigen Amüsierviertel, das seit mittlerweile aufgrund von Alkoholverboten, Dauerbaustellen und den ständigen Konflikten mit dem Ausland, weil sich hier die ausländischen Vertretungen befinden, nurmehr ein ferner Abglanz seiner selbst ist, schaut eine Gruppe junger Menschen gebannt auf den Fernseher: „Jetzt, in diesem Moment werden die Wahlen manipuliert“, erklärt der Kellner. „Die Auszählungen sind ganz plötzlich viel langsamer geworden, so kurz vor Schluss!“, berichtet er. Er und seine Freunde klammern sich an den letzten Strohhalm Hoffnung, der ihnen noch bleibt, so kurz bevor das Ergebnis endgültig feststeht. „Wenn das Ja gewinnt, gehe ich hier weg. Am liebsten nach Kanada“, murmelt er.

Balkonrede

Bereits stunden zuvor hatte sich die AKP begonnen auf ihre Balkonrede vorzubereiten – die darf nach keiner gewonnenen Wahl fehlen. Offensichtlich war man sich in der Parteizentrale seines Sieges schon sehr früh sicher – während man in der kleinen Sportbar noch den Atem anhielt.Vielleicht ist auch das ein Grund, warum noch bevor das endgültige Ergebnis feststand, die ersten Hypothesen in den Sozialen Netzwerken kursierten, dass bei den Wahlen zugunsten der Regierungspartei AKP getrickst worden sei. Ein ziemlicher Skandal ist in diesem Zusammenhang, dass offensichtlich in einigen Wahlkreisen die Stempel, die eigentlich „Meine Wahl“ stempeln sollten, ein einfaches „Ja“ war. Dennoch hat der Hohe Wahlrat beschlossen, dass auch diese Wahlzettel gültig sind. Die Oppositionspartei CHP hat bereits angekündigt, dass sie die Auszählung verschiedener Wahlurnen anfechten wird. Ebenso die HDP: Bei zwei von drei Wahlurnen wittern sie Unstimmigkeiten.

Ebenfalls unzufrieden mit dem Ergebnis ist ein junger Mann aus der Schwarzmeerstadt Trabzon, allerdings aus einem anderen Grund: „Zu wenig, viel zu wenig!“ schimpft er und ist enttäuscht, dass seine erzkonservative Heimatstadt nur 66 Prozent für Ja hervorgebracht hat. „Wir müssen ja für die Nein-Sager mitstimmen“, sagt er. „Die wissen ja nicht, was gut ist für das Land“, sagt er mit der Überzeugung des Nationalisten. Übrigens haben auch Vertreter der AKP bereits ihre Enttäuschung über das knappe Ergebnis kundgetan.

Superpräsident

Die Neinsager fürchten, dass durch das Mehr an Macht, das dem Präsidenten – in diesem Fall Recep Tayyip Erdogan – verliehen wird, demokratische Grundrechte und Freiheiten empfindlich eingeschränkt werden. Insbesondere die Rechte von Frauen und Minderheiten sehen sie in Gefahr: Erdogan macht keinen Hehl daraus, dass er islamische Werte tiefer im gesellschaftlichen Leben verwurzelt sehen möchte.

Die Jasager hingegen glauben, dass nur ein Superpräsident, der seine Entscheidungen alleine und unangefochten fällen kann, das große Land regieren kann. Ihre persönlichen Grundrechte und -freiheiten betrachten sie in diesem Kontext als zweitrangig. Zweitrangig sind offensichtlich aber auch die Ängste und Befürchtungen der anderen Hälfte der Bevölkerung.

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