Vision einer neuen Türkei: Was will Erdogan nach dem "Ja"?

Mit der Verfassungsänderung ist Erdogans Vorhaben von einer "neuen Türkei" längst noch nicht am Ende, sagt Hakan Akbulut. Für den KURIER hat der Türkei-Experte das Ergebnis des Referendums analysiert.

Was bedeutet dieses "Ja" für die Türkei?

Hakan Akbulut: Zum einen gibt es endlich eine Antwort auf die Frage, ob jetzt ein Präsidialsystem eingeführt wird oder nicht. Die Ungewissheit und die Unsicherheiten bleiben aber in anderen Fragen bestehen: Zum einen wird ein unerprobtes Präsidialsystem türkischer Bauart eingeführt, wo keiner weiß, ob und wie das System funktionieren wird. Zudem wurde mit dem Verfassungsreferendum ein verfassungsrechtliches Grundgerüst angenommen. Weitere gesetzliche wie institutionelle Anpassungen müssen noch folgen; so wird beispielsweise vermutlich eine Reform des Wahlsystems zur Debatte stehen. Außerdem bleiben ja alle möglichen akuten Probleme des Landes unabhängig vom Ausgang des Referendums bestehen, seien sie demokratie-politischer, wirtschaftlicher oder sicherheitspolitischer Natur. Diese werden die Menschen weiterhin beschäftigen.

Welchen Einfluss hat die nunmehr abgesegnete Verfassungsänderung auf die Beziehungen zur EU?

Ich glaube, dieses "Ja" wird an den Beziehungen zwischen Europa und der Türkei zunächst grundsätzlich nicht viel ändern. Die EU wird wohl die Umsetzung abwarten und beobachten, sollte das Präsidialsystem bis 2019 eingeführt werden. Ob mit oder ohne Präsidialsystem, die offenen Fragen und Herausforderungen in den EU-Türkei Beziehungen bleiben dieselben. Wird die Todesstrafe tatsächlich eingeführt? Gibt es in der Türkei tatsächlich ein Referendum über die Frage, ob die Beitrittsgespräche mit der EU fortgeführt werden oder nicht? Die Antworten auf diese Fragen werden ausschlaggebend sein.

Zudem steht noch die ungelöste Frage der Visabefreiung für türkische StaatsbürgerInnen im Raum. Außenminister Çavuşoğlu hat angekündigt, der EU nach dem Referendum einen letzten Vorschlag in dieser Frage unterbreiten zu wollen. Schließlich ist noch zu klären, ob und wann die EU-Kommission ein Mandat zur Aufnahme von Verhandlungen über eine Modernisierung der Zollunion mit der Türkei vom Rat erhält. Ausschlaggebend für die EU-Türkei-Beziehungen wird natürlich auch das Verhalten der europäischen Seite sein. Hier gilt zu beachten, dass in Frankreich und Deutschland Wahlen anstehen, vielleicht sogar in Österreich.

Was sagt dieses knappe Ergebnis über die innenpolitische Situation in der Türkei aus?

Das Ergebnis bestätigt das, was mehr oder minder erwartet wurde. Etwa Hälfte der WählerInnen spricht sich für die Änderungen aus, die andere Hälfte dagegen. Angesichts des Umstands, dass das Ja-Lager bestehend aus der AKP und der MHP bei den letzten Parlamentswahlen auf etwa 61 Prozent gekommen war, ist offenkundig, dass es beiden Parteien nicht gelungen ist, alle ihre WählerInnen vom November 2015 zu überzeugen; in welchem Verhältnis, das werden wohl Analysen der nächsten Tage zeigen. Davon wird wohl auch die Fortsetzung der Kooperation zwischen der AKP und der MHP abhängen.

Wird Erdogan versuchen auf das "Nein"-Lager zuzugehen und die Türken zu versöhnen? Oder wird er den rigiden Kurs gegen die Opposition fortsetzen?

Erdogan hat bis jetzt in der Regel versöhnliche Töne am Wahlabend geschlagen, aber im Endeffekt keine Kursänderung vorgenommen. Ich nehme an, dass es auch diesmal so bleiben wird.

Erdogan hat ja angekündigt, ein Ja beim Referendum zum Anlass zu nehmen die Todesstrafe nun tatsächlich wieder einzuführen. Ist das nicht eine endgültige Kampfansage an die EU?

Die Einführung der Todesstrafe würde einer Verfassungsänderung bedürfen. Sofern es Erdoğan ernst meint, ist auch vor dem Hintergrund der heutigen Ergebnisse fraglich, ob die hierfür notwendigen Mehrheiten zustande kämen. Ich vermute eher, dass die Todesstrafe nicht eingeführt wird. Sollte ich mich irren, so hat die EU an diesem Punkt eine rote Linie gezogen: Dies würde das Ende des Beitrittsprozesses bedeuten. Das allein dürfte keine große abschreckende Wirkung entfalten, da es ohnehin keine Beitrittsperspektive gibt und der Beitrittsprozess de facto zum Erliegen gekommen ist. Die EU würde aber vermutlich diese Frage auch mit der Modernisierung der Zollunion verknüpfen, woran die türkische Seite ein großes Interesse hat, womit sich der Kreis wieder schließt. Ich halte die endgültige Wiedereinführung der Todesstrafe für sehr unwahrscheinlich.

Prognosen sahen die Nein-Stimmen zum Teil mit zehn Prozentpunkten vorne. Wie unabhängig und also zuverlässig waren diese Prognosen?

Zum einen muss man sagen, dass Meinungsumfragen in den letzten Jahren nicht immer zuverlässig waren; sei es bei den Präsidentschaftswahlen in Österreich oder den USA, in der Frage des Brexit oder auch bei den letzten Parlamentswahlen in der Türkei. Diesmal kamen natürlich besonders erschwerende Bedingungen hinzu, nämlich der Ausnahmezustand und die Strategie der Regierung, die Nein-Sager in die Nähe von Terroristen zu rücken. Dies könnte dazu geführt haben, dass manche Menschen in ihren Angaben nicht ganz offen oder ehrlich waren. So haben sich auch manche MeinungsforscherInnen darüber beklagt, dass es diesmal schwieriger war, Menschen für die Teilnahme an Meinungsumfragen zu motivieren. Zudem hat beispielsweise ein Meinungsforscher darauf hingewiesen, dass kein einziger Beamter, den sie befragt hätten, gegen die Novelle ausgesprochen habe. Dies ist wohl vor dem Hintergrund zu interpretieren, dass mehr als 100.000 Menschen nach Verhängung des Ausnahmezustands vom Staatsdienst entlassen wurden. Der Wahlkampf fand insgesamt in keinem freien und fairen Umfeld statt. Dies dürfte sich zusätzlich auf die Zuverlässigkeit der Prognosen ausgewirkt haben.

Was will Erdogan noch? War’s das?

Diese Novelle stellt lediglich einen Anfang dar. Es werden wohl weitere Änderungen folgen, so insbesondere vermutlich eine Reform des Wahlgesetzes. Viele Gesetze müssen noch geändert bzw. adaptiert werden, damit das Präsidialsystem eingeführt werden kann. Zudem bleiben die Probleme und Herausforderungen – innen- und außenpolitisch sowie wirtschaftlich – weiterhin bestehen und müssen behandelt werden. Die Partei hat vor Jahren schon eine Vision für 2023 – also für das 100-Jahr-Jubiläum der Republik entwickelt – und sich politische und wirtschaftliche Ziele vorgegeben; d.h. das wird es für Erdogan kaum gewesen sein.

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Wieso war Erdogan dieses Referendum so wichtig? Er hat als Staatspräsident ja schon jetzt weitreichende Kompetenzen. Die Opposition ist schon jetzt stark unter Druck, mehrere Politiker der kurdischen HDP sitzen im Gefängnis.

Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen hat sich Erdogan schon mit seiner Wahl ins Amt des Staatspräsidenten im Sommer 2014 über die verfassungsrechtlich gezogenen Grenzen hinweggesetzt und sich wie ein AKP-Regierungschef verhalten. Dabei verortet die türkische Verfassung die zentrale Regierungsgewalt beim Premier und seinem Kabinett. Der Präsident muss gegebenenfalls seine Verbindungen zu einer politischen Partei kappen und neutral auftreten. Er hat diese Bestimmungen bewusst und systematisch verletzt. Dieser Umstand macht ihn angreifbar; auch er muss sich legitimieren. Mit dieser Verfassungsnovelle soll somit das Fait accompli, das er geschaffen hat, kodifiziert und legalisiert werden.

Zum anderen bleibt dieses De-facto-Präsidialsystem, das Erdogan geschaffen hat, und somit sein Einfluss bleiben aber nur solange aufrecht, solange die AKP die absolute Mehrheit im Parlament hat und den Premier stellt. Im Falle einer Koalitionsregierung oder sollte eine andere Partei alleine an die Macht kommen (was vorerst unwahrscheinlich erscheint), müsste sich Erdogan wohl zurücknehmen. Die Wahlen vom Juni 2015 haben gezeigt, dass die absolute Mehrheit nicht garantiert ist, auch wenn die AKP die Wahlen mit großem Vorsprung für sich entscheidet.

Die Verfassungsnovelle dient also auch als Ausfallsversicherung, sollte die AKP bei künftigen Wahlen die absolute Mehrheit wieder verlieren?

Angesichts seiner Popularität und bisherigen Wahlerfolge ist davon auszugehen, dass er im Falle einer Annahme der Verfassungsnovelle als erster in das neu geschaffene Amt des Republikspräsidenten gewählt wird. Das heißt, die Exekutive bliebe auch dann in seiner Hand, sollte die AKP die absolute Mehrheit verlieren – geschwächt wäre er dadurch natürlich trotzdem. Er könnte theoretisch bis 2029, unter besonderen Umständen sogar bis etwa 2034, im Amt bleiben, sofern er alle Wahlen gewinnt.

Es geht aber nicht nur um Machterhalt, sondern auch um Machausbau. Dieser fällt im Vergleich zum aktuellen Ist-Stand nicht massiv aus (da er jetzt schon die AKP, darüber den Premier und die Mehrheit im Parlament kontrolliert). Bedeutend ist etwa, dass er mit dem Instrument des Dekrets ausgestattet wird und sein Einfluss auf die Zusammensetzung des Hohen Rats der Richter und Staatsanwälte ausgeweitet wird.

Erdogan argumentierte unter anderem, dass nur er für politische Stabilität steht - und die Verfassungsänderung diese Stabilität, in der Reformen auch umgesetzt werden können, nun garantieren.

Das Präsidialsystem soll tatsächlich eine starke und stabile Exekutive gewährleisten. Kurzlebige Koalitionen, die in den 1970er und 1990er Jahren einander ablösten, sollen verhindert werden. Dieses Ziel dürfte mit dem neuen System erreicht werden. Ob eine stabile Exekutive aber Stabilität insgesamt garantiert, das wird sich erst weisen müssen.

Fakt ist: Die AKP und Erdogan forcieren seit Jahren das Narrativ einer "neuen Türkei". Diese "neue Türkei" erhält somit auch ein neues Regierungsmodell; ein Präsidialsystem türkischer Bauart.

Was waren Erdogans wichtigste Argumente? Und welche Rolle nahm hier der Konflikt mit Europa ein?

Das Präsidialsystem wurde als eine Art Allheilmittel für alle Probleme des Landes vermarktet. Es soll ein deutliches Wirtschaftswachstum und mehr Wohlstand bringen, die Lösung der sicherheitspolitischen Probleme und Herausforderungen.

Der Konflikt mit der EU hat da sehr gut in das von Erdogan gezeichnete Bild gepasst - und dieses in den Augen vieler wohl auch bestätigt: Egal ob wirtschaftliche Probleme (siehe den Werteverfall der türkischen Lira), der Putschversuch, oder Terroranschläge – die Gründe hierfür und vermeintliche Drahtzieher wurden auch zumeist im Ausland gesucht und geortet. Das Ausland (in erster Linie europäische Länder sowie die USA) sei nicht daran interessiert, dass die Türkei stärker, wohlhabender, unabhängiger, und einflussreicher werde. Deshalb stelle es sich auch gegen die Reformvorhaben und gegen das Präsidialsystem. Das habe sie auch dazu veranlasst, die Auftritte von AKP-Politikern zu verhindern.

Das Argument in Österreich, Deutschland und den Niederlanden war ja, dass man sich türkische Innenpolitik im Ausland verbitte.

Für Erdogan veranschaulichten die Verbote und das harte Vorgehen der niederländischen Polizei nur die Heuchelei und Doppelbödigkeit der Europäer in Fragen der Demokratie und Menschenrechte. Schließlich forderten die Europäer ja von der Türkei stets die Einhaltung von Grundrechten und Freiheiten. Gleichzeitig schränkten sie diese im Falle von Türken in Europa ein, während sie den Anhängern der PKK alle Freiheiten einräumten und Gülenisten Unterschlupf gewährten. Erdogan hat diese Punkte in seinen Reden und Auftritten immer wieder vorgebracht.

Die Auftrittsverbote lieferten Erdogan also vor allem Futter für seinen Wahlkampf?

Ich denke, dass viele diese Haltung der Europäer als einen Affront gegen die gesamte Nation und das Land wahrgenommen haben. Das führt in der Regel zu einem Schulterschluss und zu einer Solidarisierung. Insgesamt dürfte dieser Konflikt zu einer Mobilisierung beitragen und für den einen oder anderen eine Motivation darstellen, um für die Verfassungsänderung zu stimmen.

AKP-Politiker hatten zu Beginn der Kampagne massiv in Europa geworben, später einen Rückzieher gemacht. Hat Erdogan gemerkt, dass er es übertrieben hat?

Ausschlaggebend hierfür waren wohl die Geschehnisse und Erfahrungen von Rotterdam. Wenngleich man der Aufforderung nicht nach Holland zu kommen bewusst trotzte und somit eine Eskalation bewusst in Kauf nahm, so glaube ich, dass auch die AKP mit so einem harten Vorgehen nicht rechnete. Dass die niederländische Polizei der Familienministerin die Zufahrt zum Konsulat verweigert und mit dieser Härte gegen die vor dem Konsulat versammelte Menge vorgeht, dürfte auch sie überrascht haben. Schließlich waren auch in Deutschland Auftritte von AKP-Politikern abgesagt worden.

Der Außenminister konnte trotzdem ungestört einreisen und am türkischen Konsulat eine Rede halten. Diesmal sahen die Menschen aber, wie die niederländische Polizei mit Wasserwerfern und Polizeihunden gegen die Landsmänner vorging und eigene Minister brüskierte. Dies löste eine Welle der Entrüstung aus. Weiterhin auf Auftritte in Europa zu pochen, war weder länger notwendig noch zielführend. Was die Bilder aus Rotterdam bewirkten, wäre wohl mit Auftritten in allen EU-Ländern nicht zu erreichen gewesen. Trotz allem erneut auf Auftritte in anderen Ländern zu pochen und eine Wiederholung dieser Szenen zu riskieren, wäre zudem als unverantwortlich empfunden worden und somit kontraproduktiv gewesen.

Wie wurden die Wahlkampfauftritte in der türkischen Community in Österreich wahrgenommen?

Der österreichische Außenminister war ja einer der ersten, der sich gegen diese Wahlkampfauftritte ausgesprochen hat. Die Debatten wurden auch hier Tage lang geführt. Zudem hat man auch die Entwicklungen in anderen Ländern, insbesondere in den Niederlanden mitverfolgt. Ich glaube, dies hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Beteiligung am Referendum deutlich höher ausgefallen ist als bei den letzten Parlamentswahlen. Diese ganzen Konflikte und Debatten rund um den Auftritt von AKP-PolitikerInnen dürften somit auch in Österreich zu einer Mobilisierung und Solidarisierung geführt haben.

Laut den Wahlbeobachtern der OSZE wurde das Nein-Lager massiv behindert. Die gleichgeschalteten Medien hätten nicht ausgewogen berichtet, Erdogans Gegner verunglimpft. Welchen Kanälen bediente sich dann das Nein-Lager für seine Informationskampagne?

Es ist offenkundig, dass die Kampagnen nicht unter freien und fairen Bedingungen stattgefunden haben. Es ist mehr als nur unwahrscheinlich, dass der Präsident und die AKP bei ihrer Kampagne nicht auf Ressourcen des Staates zurückgegriffen haben. Den der Regierung nahestehenden Medien wurde auch eine einseitige bzw. unausgewogene Berichterstattung dadurch erleichtert, dass mit einem Dekret der Auftrag an die Wahlbehörde, eine unausgewogene Berichterstattung zu sanktionieren, aufgehoben wurde. Natürlich waren bei manchen Sendern auch die Nein-Sager bei Diskussionsrunden stets vertreten. Die Behauptung ist also nicht, dass sie überhaupt nicht zu Wort kamen, sondern dass es insgesamt unausgewogen war. Eine größere Vielfalt war natürlich bei Online-Medien zu beobachten.

Hinzu kommt, dass die Nein-Front aufgrund des Umstands, dass 13 Abgeordnete sowie mehrere Hundert Parteifunktionäre der HDP inhaftiert sind, deutlich geschwächt ist. Interviews mit HDP-VertreterInnen im Fernsehen, habe zumindest ich persönlich keine gesehen. Es muss jedoch in diesem Zusammenhang auch festgehalten werden, dass eine größere Sichtbarkeit der HDP im Rahmen der Nein-Kampagne im Hinblick auf das Ergebnis (aus Perspektive der Nein-Front) vor dem Hintergrund der Entwicklungen seit dem Sommer 2015 auch hätte kontraproduktiv sein können, womit ich keineswegs die unausgewogene Berichterstattung oder die unfairen Ausgangsbedingungen legitimieren möchte.


Zur Person: Hakan Akbulut

Dr. Hakan Akbulut ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Österreichischen Institut für Internationale Politik (OIIP) und unterrichtet an der Universität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der türkischen Außen- und Sicherheitspolitik.

Vision einer neuen Türkei: Was will Erdogan nach dem "Ja"?

Hinweis: Das Interview wurde um 20.05 mit den aktuellen Ergebnissen aktualisiert.

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