Zwischen "Merkels Blut" und "We are the World"
"Wie kann es ein Einzelner schaffen, eine ganze Gesellschaft zu spalten?", fragt die ältere Dame, die vor dem Blumenmeer am Breitscheidplatz steht. Sie zündet eine Kerze an, geht weiter; eine Antwort erwartet sie nicht.
Die gibt es auch nicht, noch nicht zumindest. Zwei Tage sind vergangen, seit "das Herz Berlins getroffen" wurde, wie es auf einem der vielen Schilder steht, die Trauernde am Platz hier aufgestellt haben. Noch ist nicht ganz klar, wer hinter der Attacke steckt, die die Stadt mit ihrer unheimlichen Wucht getroffen hat. Vielleicht ist gerade wegen dieser Ungewissheit und der vielen Spekulationen der dünne Riss, der schon vor der Attacke durchs Land ging, so viel breiter geworden: "Angst" titelt die Bildzeitung ihre heutige Ausgabe, daneben steht im Kiosk am Breitscheidplatz die Titelseite der Berliner Morgenpost. "Fürchtet Euch nicht", steht da zu lesen. Die einen sehen das Dunkle, das über der Stadt heraufdräut, die anderen machen unbeirrt weiter.
Diejenigen, die das Licht sehen wollen, haben sich mittags vor der Gedächtniskirche versammelt; sie singen dort "We are the World" und "Stille Nacht". Wäre das Ganze eine Filmszene, man hätte sie nicht besser inszenieren können – mit den ersten Klängen des Weihnachtslieds kommt die Sonne durch die grauen Wolken, die die Stadt seit Tagen bedeckt halten.
Heute ist jeder Berliner
In der Zuschauermenge wird geweint. "Den Leuten ist das wichtig", sagt René Engel, er hat den Auftritt über die Plattform Avaaz organisiert. Gut 200 Leute sind gekommen, und als die Menge zu singen beginnt, stellen sich immer mehr dazu. Auch zwei Chöre sind dabei, bei ihnen singen Geflüchtete mit. Sie halten "Ich bin ein Berliner"-Zettel in der Hand, genauso wie einige Touristen, die mitsummen, und viele echte Berliner natürlich. Aber wer hier von wo kommt, ist komplett egal: Das Berliner-Sein hat hier und heute nichts mit der Herkunft zu tun.
Das ist ein Satz, den einige Kilometer weiter wohl niemand unterschreiben würde. Abends versammeln sich vor dem Kanzleramt jene, für die "Willkommenskultur" schon immer ein Schimpfwort war; "Blut an Merkels Händen" ist das Motto ihrer Mahnwache, die direkt vor dem Amtssitz der Kanzlerin abgehalten wird. Aufgerufen dazu hat die "Ein-Prozent-Bewegung", ein rechtsextremes Netzwerk, hinter dem AfD-Einflüsterer Götz Kubitschek steht. Dessen Ziel: Ein Prozent aller Deutschen von ihren Ideen zu überzeugen; das reiche per Schneeballeffekt zum Machtwechsel.
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Keine Parolen, aber Gejohle
Doch Berlin wäre nicht Berlin, wenn so ein Aufmarsch ohne Gegenprotest über die Bühne ginge. "Nazis", tönt es vom Rand dann auch her; in der ehemals geteilten Stadt fällt es vielen schwer, ihre "Berliner Schnauze" zu halten, gerade wenn es um Parolen von rechts geht: Berlin war immer schon eine politische Stadt, das ist sie heute mehr denn je. Das merkt man auch an Zetteln wie den mit der Aufschrift "Gegen den Terror. Aber auch gegen die AfD", der am Breitscheidplatz an prominenter Stelle hängt.
Licht und Dunkelheit
Daneben steht: "The light is stronger than the darkness" und "Wir lassen uns nicht unterkriegen". Die Sprüche klingen ein wenig nach Selbstbeschwörungen, ähnlich wie die Worte beim Gedenkgottesdienst gestern Abend, bei dem beinahe die ganze Staatsspitze anwesend war. "Wir geben dem Terror nicht dadurch Recht, dass wir uns entzweien lassen", sagte der Berliner Bischof Markus Dröge da. Im Publikum saßen viele Muslime; die Kopftuchdichte war hoch.
Auch in der Schlange vor dem Kondolenzbuch stehen Menschen aller Nationalitäten. Muslime warten hinter Touristen aus Asien, danach reiht sich ein Paar aus Sachsen ein, das extra nach Berlin gekommen ist. Kaum jemand spricht hier; nur Polizeisirenen mischen sich hie und da in die Ruhe des Kirchenraums.
Draußen vor der Tür steht ein Herr aus Brandenburg, er spricht mit einem Polizisten über die Anti-Merkel-Demo. "Dass die Demo stattfinden darf, ist ja ein gutes Zeichen", sagt er. "Für die Freiheit in diesem Land, denn man darf sagen, was man will. Auch wenn es nicht stimmt."
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