Reichlich spät: Frankreich in Quarantäne

La Defense in Paris
Widersprüchliche Signale von Präsident Macron und der Opposition erzeugten mangelnde Vorsicht.

Seit Dienstag 12.00 Uhr steht die Mehrheit der Franzosen unter Heimquarantäne, und das für mindestens 14 Tage. „Frankreich befindet sich im Krieg“ – die Formel hatte Emmanuel Macron gleich sechs Mal bei seiner TV-Rede am Vortag bemüht.

Der Staatschef gab sich umso martialischer, als er nach Dafürhalten der meisten Experten aus dem Gesundheitswesen, zu lange gezögert hatte. Vor allem die Genehmigung des ersten Durchgangs der landesweiten Kommunalwahlen noch am vergangenen Sonntag habe der Bevölkerung ein falsches Sicherheitsgefühl vermittelt.  

Tatsächlich waren am vergangenen Sonntag etwa in Paris, wo besonders schönes Wetter herrschte, Massen in die Parks geströmt. Familien hatten eng nebeneinander gepicknickt und Kinder in nächster Nähe der Erwachsenen herumgetollt.

Wie sehr das Bewusstsein bezüglich der Ansteckungsgefahr in weiten Teilen der Bevölkerung nachhinkte, veranschaulichte sogar Gesundheitsminister Olivier Veran. In einem
TV-Interview führte er als Beispiel seine eigenen Eltern an, die ihn soeben angerufen hatten mit der Bitte, sie würden noch mal schnell auf Besuch bei ihm vorbeischauen, um „die „Enkeln zu küssen“.

Massenexodus aus Paris

In Vorausahnung der Einschränkung der Bewegungsfreiheit und aus Angst vor dem Virus hatten außerdem am Wochenende abertausende Großstädter, allen voran in Paris, die Bahnhöfe gestürmt, um sich oder zumindest ihre Kinder (die Schulen waren bereits gesperrt) „aufs Land, in Sicherheit“ zu bringen – etwa zu Großeltern auf dem Dorf oder in einen Zweitwohnsitz.
Dabei fällt auch der Umstand ins Gewicht, dass viele Pariser wegen der horrend hohen Mieten und dem Mangel an Sozialbauten in elendskleinen Wohnungen hausen, die für eine Quarantäne auf unbestimmte Zeit denkbar ungünstig sind.  Dieser überstürzte Massen-Exodus hat freilich abermals die Ausbreitung des Virus begünstigt, wie Mediziner entsetzt kommentierten.

 Jetzt aber droht allen eine Buße von 135 Euro, die ohne „zwingenden Grund“ unterwegs sind. Problem: Jeder kann sich eine schriftliche „Ehrenerklärung“ für eine Sondergenehmigung selber ausstellen, entsprechende Modell-Formulare kann man über das Webportal herunterladen.

Polizei und Gendarmerie, die für die Einhaltung dieser Regeln sorgen sollen, sind überfordert, weil es ihnen an Schutzmasken mangelt. Das gilt sogar für zahllose Ärzte und Krankenhausbedienstete. Macron hat zwar eine neuerliche Verteilung von Masken angekündigt, aber die heimische Produktion steckt in einem dramatischen Rückstand.

 Frankreich ist einstweilen nach Italien das am stärksten betroffene Land in Europa. Aber unterschwellig gab es noch bis vor kurzem das Gefühl bei vielen Franzosen, die Situationen in Italien und in Frankreich wären keineswegs vergleichbar. Italienische Journalisten in Paris übermittelten noch am Wochenende Fotos von dicht gedrängten Warteschlangen vor Theatern und Kinos aus der französischen Hauptstadt. Einer dieser italienischen Journalisten meinte dazu: „Die Italiener sagten sich in Anbetracht dieser Bilder: entweder sind wir oder die Franzosen verrückt“.

Notstand im Elsass

 Inzwischen ist etwa im Elsass die Aufnahmekapazität der Intensivstationen der Krankenhäuser bereits überschritten. Macron versprach deswegen, das Militär würde im Elsass Behelfs-Spitäler errichten und tausende Patienten per Bahn in andere Regionen evakuieren.   

Alle Wirtschaftsbereiche, die in der gegebenen Situation nicht unerlässlich sind und ohne Heimarbeit nicht auskommen können, stehen vorerst still. Macron hat beteuert, der Staat werde für die betroffenen Unternehmen einspringen, und an deren Stelle alle Kurzarbeiter komplett entschädigen. Namentlich in der Auto-Industrie wurde die Ankündigung der provisorischen Werks-Schließungen vielfach mit Erleichterung aufgenommen. „Uns ist die Gesundheit unserer Kinder wichtiger als die Höhe unseres Gehalts“, versicherte ein Gewerkschafter einer Renault-Fabrik.  

Dem drohenden Ruin zahlloser Geschäfte und Kleinbetriebe will Marcon mit der Bereitstellung von 300 Milliarden Euro entgegenwirken. Gefährdete Unternehmen können um eine Stundung ihrer Wasser-, Strom- und Gaszahlrechnungen ansuchen. Außerdem sollen ihnen die Banken Überbrückungskredite gewähren, für die der Staat die Garantie übernimmt.

Alle Reformen ausgesetzt

Macron hat auch alle laufenden Reformprojekte seiner Regierung, darunter die umstrittene Rentenreform, gegen die die Gewerkschaften wochenlang Sturm gelaufen waren, einstweilen ausgesetzt.

Und schließlich hat der Staatschef angekündigt, der zweite Durchgang der landesweiten Kommunalwahlen werde auf unbestimmte Zeit verschoben – Beobachter rechnen mit einem neuen Termin im Juni.

Vor dem ersten Durchgang am vergangenen Sonntag hatten die Kreise um Macron noch beteuert, wählen gehen sei „nicht gefährlicher als zum Becker zu gehen“ – und damit die Bedenken der Mediziner abgetan, die darauf hingewiesen hatten, dass es unverständlich wäre, den Franzosen von allen Gemeinschaftstreffen abzuraten und sie gleichzeitig in die Wahllokale zu treiben.

Die Opposition gegen Macron hält sich aber jetzt diesbezüglich eher bedeckt, weil sie es vornehmlich war, die den Staatschef dazu trieb, den ersten Wahlgang aufrecht zu erhalten. Vor allem die Führer der konservativen „Republikaner“ hatten gedroht gegen einen Aufschub der Wahlen heftig zu protestieren. Macron gab diesem Druck nach, weil ihm bereits von seinen Gegnern aus allen Polit-Lagern, den Gewerkschaften und einem Teil der Medien immer wieder autoritäre Tendenzen vorgeworfen wurden, und er sich jetzt um eine diesbezügliche Image-Korrektur bemüht.

 Paradoxerweise war es der Wahlabend des ersten Durchgangs der landesweiten Kommunalwahlen der vielen Zusehern den Ernst der gesundheitlichen Bedrohung deutlich machte: die Vertreter der im ersten Durchgang erfolgreichsten Parteien (vielfach die Opposition gegen Macron, ob von links oder rechts) redeten im TV kaum über ihre eigenes Abschneiden sondern fast nur über den Corona-Virus. 

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